Mittwoch, 30. Dezember 2009

Die Waffen der Frau


Zum Jahresende lege ich mir neue Laufschuhe zu und laufe damit am Rhein entlang. Das Hochwasser hat eine Menge Unrat angeschwemmt. Kanister, Gartenstühle, Spülkonsolen aus Styropor und Alu, nackte Puppenbeine, Frittenfetteimer, Bälle aller Art, sogar ein aufgequollener American Football. Näher hingucken würde einen Brechreiz in mir auslösen. Aber so im Vorbeilaufen hat es diesen Gaffereffekt, der die meisten Leute bei schweren Unfällen und bei Naturkatastrophen befällt. Ich nehme mich da nicht aus. Allerdings hasse ich diejenigen Glotzer, die mir in eindeutig zu geringer Distanz langsam mit dem Fahrrad folgen ohne mich zu überholen. Oder solche, die sich ins Gebüsch schlagen, wenn sie sehen, dass da eine Läuferin antrabt. Alle Sinne sind dann auf Habacht und meine Nackenhaare sind Stacheln in der Art der Großen Klette (Arctium lappa). Abrupt bleibe ich stehen und drehe mich um. Seine Hässlichkeit macht mich wütend, ich bin bereit zum Sprung. Der Typ wiegt bestimmt hundertfünfzig Kilo, die teigigen Augen blinzeln verwirrt. Ich starre ihn an, als er langsam vorbeiradelt, so langsam, wie man gerade noch fahren kann ohne wegen mangelnder Bewegung umzufallen. Ich hebe einen Stein auf und sehe seinen Hinterkopf bluten, bevor er wie ein Kartoffelsack vom Rad fällt und keuchend in einer Pfütze liegen bleibt.

Montag, 28. Dezember 2009

Gefangen

Die Tür lässt sich nicht verriegeln, das Licht blinkt. Ich stehe innen, drücke auf den Knöpfen herum und warte, dass es klickt. Da geht die Tür wieder auf und eine Frau in einem geblümten Winterkleid steht vor mir. Die lila auf den Stoff gedruckten Blüten sehen aus wie Gemeiner Frauenspiegel (Legousia speculum-veneris). Sie lacht, denkt, ich bin fertig aber ich sage die Tür geht nicht zu. Sie kommt herein, beide fingern wir an der Verriegelung, die jetzt klickt und nun sind wir eingeschlossen. Sie kramt ihr Schminktäschchen heraus und blickt in den Spiegel. Ich stehe hinter ihr und lache, wir sind fremd und doch seit Sekunden befreundet. Ihr Gesicht ist ein Spiegel meines Gesichts und ihre Hände sind feingliedrig, zittern ein wenig als sie Wimperntusche auflegt. Ich mache ihr ein Kompliment für ihr Kleid, das lässt sie ein wenig hüpfen. Sie sagt, es tut gut, das Kompliment. Ich wundere mich, sie ist schön und fröhlich und zieht die Blicke auf sich. Ich stehe mit dem Rücken an die Plastikwand gelehnt und denke an meinen Schlafgefährten, der mir heute Morgen gesagt hat, ich sähe so vergnügt aus. Es ist Andi, der mich glücklich macht und natürlich sehen das alle. Aber in dem Spiegel hier, gefangen mit dieser Frau, habe ich Augenringe.

Freitag, 18. Dezember 2009

White Xmas

Meine Tochter hat schon vor Weihnachten ihr großes Geschenk bekommen: ein breites Bett. Dabei hat sie ganz meinen Geschmack getroffen: ein weiß lackiertes Eisenbett mit ein paar Verschnörkelungen á la Weißes Waldvöglein (Cephalanthera damasonium). Ich habe so ein ähnliches. Das Weiß passt genial zu dem Satinbettüberwurf, den ich ihr letztes Jahr zu Weihnachten geschenkt habe: schimmerndes Weiß mit einem pinkfarbenen Namenszug, gestickt aus Perlen. Das klingt zwar ziemlich kitschig, erinnert auch spontan an die weiße Elvis-Jacke, die jeder kennt, aber der Effekt ist irgendwie der Gleiche: Wow! Ich weiß gar nicht, ob ihr Freund auf diese Optik steht. Allerdings müsste er mit diesem Hinter – bzw. Untergrund bestens zur Geltung kommen. Das muss ich sie mal fragen, so in der Art naivspontane Neugierfrage, die meistens etwas zu sehr in die Privatsphäre rutscht. Uuups, sorry!

Montag, 14. Dezember 2009

Andi`s back


Es nieselt auf dem Weihnachtsmarkt, Andi hat Glitzertropfen im Haar. Wir stehen seit einer Stunde an diesem silbernen Holzbaum und sehen uns in die Augen. Was für ein Wiedersehen. Der Zufall unserer Begegnung hat uns beide umgehauen. Er erzählt mir, in welcher Galaxie er unterwegs war und ich fühle den ganzen Schmerz der letzten Monate, die wir getrennt waren. Andi ist Magie. Wie viele Glühweine haben wir jetzt in uns hineinlaufen lassen? Das dampfende Getränk ist wie ein Seil, das uns langsam fesselt, Runde um Runde schnürt es uns ein, bis wir vor Erwartung kaum mehr atmen können. Unsere Hände berühren sich und der Schock breitet sich im Körper aus. Sein Blick sprüht  Funken, aber das Feuer in mir lodert schon. Über uns hängen Mistelzweige (viscum album).
Ich war die letzten Tage so nervös, obwohl ich nicht an Andi gedacht habe. Wörter (!) haben mich aus dem Gleichgewicht gebracht, mich in dieses schwarze Loch gezogen. Ich müsste es eigentlich wissen. Das war Andi. Er hat mich angefunkt und ich habe nur Equinox verstanden. Dumm. Dafür ist die Freude jetzt umso größer, von wegen Zufall. Lass uns gehen.

Donnerstag, 10. Dezember 2009

Tagundnachtgleiche

Equinox hört sich viel besser an als Tagundnachtgleiche, so direkt vom Lateinischen ins Englische katapultiert. Ich habe das Wort heute zufällig in einem Text gelesen und nicht gewusst, was das heißt. Also gucke ich in den Pons und in meinen Komikaugen blinken plötzlich Sterne. Blink blink. Frühlingspunkt. Widderpunkt. Die Begeisterung passt nicht wirklich in die Jahreszeit, ich weiß, aber wer will schon einen wilden Aufruhr der Gefühle mitten im Dezember wegdrängen? Niemand, genau. Vielleicht könnt ihr gar nicht nachempfinden, was so ein einzelnes Wort bei mir auslöst. Equinox löst in meinem Gehirn eine Lawine aus. Hunderte von Assoziationen purzeln in den freien Fall während ich am Schreibtisch sitze, mitten im Büro. Wer mich durch das Fenster sieht und meinen regungslos auf einen imaginären Punkt außerhalb der Scheibe gerichteten verklärten Blick sehen würde, denkt, aha, sie tagträumt. Tagträumen ist ein gutes Wort neben Tagundnachtgleiche. Diese verschlungenen Pfade von Tag und Nacht, die wir immer sauber zu trennen versuchen. Meinen Schlafgefährten kann ich gut in dieses System einordnen. Eindeutig der dunkle Part. Ich selber schwanke, aber: Mir geht es gut. Vielleicht liegt es an der Gingko-Tinktur (Gingko biloba), die ich mir zurzeit verabreiche. Sie wirkt gefäßerweiternd, insbesondre im Kopf.

Dienstag, 8. Dezember 2009

NEW MOON in Godesberg



Mit meiner Freundin war ich ja schon im Film. Mit meiner Tochter und ihrer Freundin gehe ich noch mal, weil wir jetzt zusammen Englisch lernen und uns deshalb das Original angucken. Danach müssen sie mir dann Sätze wie „The wolf is out of the bag so welcome the wolf!“ übersetzen oder mir einfach einen original englischen Kommentar geben. Und vielleicht aus Romeo and Juliet rezitieren, das können sie sich auch im Film abgucken.

Als ich am Wochenende wieder Regionalbahn gefahren bin, saßen ein paar Vampire in der Nähe. Gutaussehende Bleichgesichter mit rötlichen Augenrändern und hellbraunen Kontaktlinsen. Sie haben schnell und leise miteinander gesprochen und ich habe nur Wortfetzen aufgefangen: Godesburg, Bad Godesberg, Vampirdinner…. Das waren jetzt keine VIP-Vampire, sondern ganz normale, die keiner kennt und die nur durch den Film-Hype gerade Aufmerksamkeit auf sich ziehen. Anlass war der Vollmond. Das ist zwar ein wenig widersprüchlich zum Film, weil bei Neumond sieht man den Mond ja gar nicht – aber egal, die weiße Haut leuchtet bei Vollmond natürlich besser als bei keinem Mond. Übrigens ist Knoblauch (Allium sativum) kein wirksames Mittel gegen Vampire, aber die braunäugigen sind ja sowieso nicht gefährlich.

Mittwoch, 2. Dezember 2009

Blutegel und Back Street Boys



Hotelübernachtung in Saarbrücken. Das Zimmer ist so klein, dass ich mir nicht vorstellen kann, dass das Bad noch kleiner ist. Ist es aber. Die Duschwanne ist ungefähr 40 mal 40 Zentimeter und der Plastikvorhang klebt während des Duschens wie ein Blutegel an meiner Haut. Zwischen den Kacheln wächst Schimmel (fungi imperfecti) in skurrilen Mustern. Ich muss ihn betrachten, weil ich mich nicht drehen kann oder ich schließe die Augen. Mit geschlossenen Augen trockne ich mich ab, creme mich ein und gehe rückwärts wieder aus der Nasszelle. Das Zimmer ist so lang wie das Bett und so breit wie die Tisch-Garderoben-Schrank-und-Fernseher-Kombination. Ich zappe die vier Privatsender durch und gucke mir ein Interview mit den Back Street Boys an. Die sind jetzt fast alle verheiratet und haben Kinder. Ich liege auf dem Bett und atme die verrauchte Luft ein, die hier durch irgendwelche Ritzen quillt. Draußen rauscht die Stadtautobahn. Warum bin ich hier und nicht in Bayern? War das meine eigene Entscheidung? Ich kann nicht mehr denken. Mein unbekannter Zimmernachbar schnarcht.

Sonntag, 29. November 2009

Kugelfisch mit Augenrändern



Meine Tochter meint, wenn ihr die Weisheitszähne gezogen werden, würde sie aussehen wie ein Kugelfisch mit Augenrändern. Das weiß sie anscheinend schon vorher. Die OP ist erst am Donnerstag, doch schon eine Woche vorher kann sie mir das sagen. Sie hat schon immer lebhaft geträumt. Manchmal hat sie mit Personen geredet, die aus dem Traum neben ihr Bett getreten sind. Auf diese Art hat sie bei einer anderen OP vorher schon mit dem behandelnden Arzt gesprochen. Der hatte standesgemäß einen grünen Kittel an und einen Mundschutz über dem Gesicht. Durch die dünne Stoffwand hindurch hat er ihr versichert, dass es nicht wehtun würde.

Nach dem Eingriff war meine Tochter das medizinische Wunder der ganzen Abteilung. Sie konnte schon am ersten Tag wieder aufstehen, obwohl das nicht so vorgesehen war. Das Personal machte große Augen. Ich glaube, ihr Antrieb waren ihre Haare. Sie wollte einfach schnell ihre Haare waschen, damit sie nicht so krankenbettmäßig am Kopf kleben, wenn der erste Besuch kommt. Das kann ich verstehen. Ach so, ich bin gespannt, inwieweit das mit dem Kugelfisch hinkommt. Auf jeden Fall werde ich schon mal einen Frischsaft aus Echtem Löffelkraut (Cochlearia officinalis) zubereiten, der dämpft Entzündungen und festigt lockere Zähne.

Donnerstag, 26. November 2009

Zugenagelt

Das blonde Mädchen ist höchstens siebzehn und hat eine beneidenswert glatte Haut. Ihre Augen sind mit einem perfekten Lidstrich geschminkt, die Lippen haben einen sanften Schwung. Sie zieht viele Blicke auf sich. Durch die samtene Haut ihrer Wangen sind auf jeder Seite zwei Piercings gestoßen, die leichte Dellen verursachen. Auch knapp über der der Oberlippe hat sie ein Piercing und dann noch einen Ring durch die linke Braue. Sie lehnt sich zurück und schließt die Augen. Lange Wimpern streifen ihr Gesicht, zart wie die ersten Blütenblätter der Schlehe (Prunus spinosa) im Frühling.  Alle Leute, die um sie herumsitzen, schauen sie jetzt an, begreifen nicht das Metall in diesem lieblichen Antlitz, verstehen nicht die Lust an der Selbstzerstörung und versuchen zu ermessen, wie groß der Selbsthass denn sein kann, wenn man so gut aussieht. Das ist schwer nachzuvollziehen. Mir gelingt es nicht. Meine Fantasie geht vom banalen Aufstand gegen die Spießergeneration der Eltern über die reine Neugierde auf den Schmerz bis hin zu ich will nicht mehr immer die Schöne sein und deshalb nagele ich mich zu. Ich habe neulich schon einmal ein Mädchen mit einigen Piercings um den Mund gesehen und bin richtig erschrocken. Denn bei ihr sah das horrormäßig aus. Und ich glaube, sie hat sich gefreut, als ich zusammenzuckte. Sie lachte und das Metall in ihrem Gesicht funkelte.

Sonntag, 22. November 2009

Joshi`s Barbeque Pizza

In der Bahn nach Niederdollendorf tummeln sich zwei Pinguine. Ich weiß auch nicht, warum ich in dieser Linie immer auf exotische Tiere treffe. Es sind zwei Pinguine im Zahnspangenalter, beide chinesischer Abstammung und wie es sich gehört, schwarz/weiß gekleidet. Zuerst denke ich, es sind Aushilfskellner vom Maritim in Königswinter. Aber im Laufe der Fahrt stellt sich heraus, dass sie zu einer Party gehen. Sie sind äußerst vergnügt und schnattern in asiatischer Pinguinart, dabei gestikulieren sie heftig. Ich glaube nicht, dass sie etwas genommen haben, z.B. Medizinal-Rhabarber (Rheum palmatum), der aus China stammt und dessen Aufguss komplexe Wirkungen nachgesagt werden. Ihr stakkatoartiges Geschnatter ist eine Mischung aus Deutsch, Englisch und das, was ich für Chinesisch halte. Plötzlich zieht der eine Pinguin seinen weinroten Reisepass unter dem Flügel hervor, dann lachen sie sich kaputt, weil er mit zweitem Namen Josef heißt. Sie tauschen außer ihren Geburtsnamen auch noch ihre Schuhgrößen aus, immerhin haben beide 41 und das bei eher bescheidener Körpergröße. „Meinst du, da sind noch andere Asiaten auf der Party?“ fragt der eine. Sie machen diese Breakdance 90 Grad Flügelbewegung, ganz schön schwierig, ich habe das ausprobiert, nachdem sie ausgestiegen sind.

Donnerstag, 19. November 2009

Rock`n Roll!



Meine Tochter und ihre Freundin kennen Juliette Lewis nicht – auch nicht aus den Filmen von Tarantino und nicht den Kuss mit Robert de Niro in Kap der Angst oder aus Natural Born Killers. Egal, jetzt macht sie ja  Musik und sie rockt so richtig ab. Sie war im Studio meines Lieblingsradiosenders und ihre Stimme war soooo tief. Sie spielte Songs von Metallica, Iron Maiden, Rammstein und…. Elvis Presley. Zu Rammsteins „Engel“ haben meine Tochter und ich - als sie noch kleiner war – im Wohnzimmer getanzt, bis die Nachbarn an die Wand geklopft haben. Die Rammsteins wohnen ja immer noch in ihren Zweiraum-Plattenwohnungen, an denen jetzt der Efeu (Hedera helix) hochrankt, quasi die Ivy-League des Ostens. Übrigens sind alle Pflanzenteile des Efeu extrem giftig und der Verzehr größerer Mengen führt zu Brennen im Rachen, Durchfall, Erbrechen, Kopfschmerzen, erhöhtem Puls und Krämpfen.

Ich bin ziemlich froh, dass meine Tochter nie ins Ballett wollte und sich lieber meine Platten angehört hat. Wir hatten eine Menge Spaß dabei. Jetzt hat sie ihren eigenen Musikgeschmack und wenn ich sie mal frage, was sie so hört, dann kenne ich die Mucke nicht. Ich höre auch nicht mehr Rammstein und Metallica, eigentlich überhaupt nichts von dem alten Zeug. Irgendwann Anfang des neuen Jahrtausends habe ich Dancefloor entdeckt und so richtig glücklich war ich, als ich mir nach langem Zögern und in Sorge um meine Hörfähigkeit einen iPod zugelegt habe. Der ist jetzt sozusagen angewachsen. Ist mir doch egal, ob ich irgendwann schwerhörig werde. Hauptsache ich kriege keinen Gehirntumor von meinem Mobiltelefon – das schalte ich nachts aus.

Mittwoch, 11. November 2009

Mit Wolle durch den Winter II

Hotelübernachtung in Südthüringen, das ist kurz vor Bayern. Ich schalte morgens den Fernseher an, es ist kalt im Zimmer, um die Wartburg wabert Nebel. Die Webcams auf den Alpengipfeln senden ihren monotonen 90 Grad-Schwenk auf das Wetter und die Schneeverhältnisse. Steinplatte -4, Schneeflecken. Oberjoch -3, weiß. Fellhorn -2, grau verhangen, Wildkogel -2, weiß. Ich blicke aus dem Fenster. Hier ist es grün bzw. spätherbstlich braun. Ich freue mich wie ein Eichhörnchen über diese Übertragung, stelle den Ton lauter, damit ich auch beim Haare föhnen die Volksloungemusik höre. Natürlich sind wir hier nicht in den Alpen, aber es fühlt sich so an. In Thüringen gibt es viele Gingkobäume (Gingko biloba) und alte Villen. Den Gingko gibt es schon seit 200 Millionen Jahren, der ist also viel älter als alles andere, was hier steht.

Die Nacht war wunderbar. Ich habe so gut geschlafen, nachdem ich einige Gläser Saale-Unstrut getrunken und mit meinem weit entfernten Schlafgefährten ein paar Zärtlichkeiten ausgetauscht habe. Als ich mich zur Ruhe begeben will, sehe ich die Information auf dem Nachtkästchen: Liebe Gäste, im Winter haben wir für Ihren Schlafcomfort Unterbetten aus reiner Wolle aufgezogen. Wir wünschen Ihnen eine angenehme Nachtruhe und würden uns freuen, wenn Sie uns auf die Karte schreiben, ob Sie damit zufrieden waren. Vielen Dank. Ich habe heute gleich im Internet nach Unterbetten aus Wolle geguckt, die sind gar nicht so teuer. Muss ich haben. Ich könnte meiner Tochter auch so eins zu Weihnachten schenken, auch wenn sie nicht so auf Wolle steht. Es juckt nicht, ehrlich! Es ist ganz weich und warm.

Sonntag, 8. November 2009

Kommt doch rein!



In dieses Starbuckscafé kommen nur schmale Personen bis fünfzig Kilo. Alles ist eng und klein und Diät. Der Karamelmacchiato ist kalorienreduziert, damit das Café seine Stammkundinnen nicht verliert. Meine Tochter, ihre Freundin und ich sind rein zufällig hineingeraten und da wir beim Betreten der im Boden eingelassenen Body-Mass-Index Kontrollplatte keinen Alarm ausgelöst haben, ist es für uns, als würden wir in ein ganz normales Starbucks gehen. Der gutaussehende Kaffeezubereiter zaubert uns Herzen auf den Milchschaum und bringt uns mit tänzelndem Schritt die Tassen. Erst, als wir unsere Jacken ausziehen, merken wir, wie eng es ist. Die Tische und Stühle, leider keine Loungesessel, stehen so dicht, dass unsere Rippen im Sitzen an die Tischkante stoßen. Wir sitzen am Fenster und blicken auf die Stadtvegetation, eine Winterlinde (Tilia cordata), deren letzte herzförmige Blätter zu Boden fallen. Die Form der Blätter ist die gleiche wie das Kakaomuster auf unserem Milchschaum. Wie aufmerksam. Meine Tochter und ihre Freundin lästern über alle Mädchen, die am Fenster vorbeigehen: Ätzende Haare, uncoole Jacke, dicke Beine, nicht akzeptable Ohrringe. Sie prusten vor Lachen bei der Vorstellung, dass die Pummel auf der Türmatte einen Megaalarm auslösen, puterrot anlaufen und schnell davonlaufen. Der Tänzer grinst zu uns rüber. Beschämt senke ich den Blick und denke an meine wunderschöne Freundin, deren Rundungen sehr attraktiv sind.

Freitag, 6. November 2009

Die Chirurgin trinkt Wermut


Mit einer Digitalkamera fotografiere ich das Innere von Glasschüsseln und heraus kommt: Lenin. Das nenne ich gelungene Aktionskunst oder vielleicht auch kreatives Rorschach-Knipsen. Dabei habe ich mich nie näher mit dem Kommunismus oder Leninismus beschäftigt, ich kenne nicht mal den Unterschied.

Das Aushöhlen eines Kürbisses hat den Anstoß gegeben. Nachdem das Gewebe gelockert und die Kerne herausgelöffelt sind, hängt der Rest irgendwie fest. Stochere mit dem Messer herum und ritze das Fleisch an, Mann ist das zäh! Ich komme mir vor wie eine Chirurgin beim Gebärmutter ausschaben. Jetzt weiß ich auch, dass das nicht einfach ist. Man kann nicht einfach das Innere herausheben wie eine luftige Sahne vom glatten Schüsselrand. Das Zeug krallt sich fest, eklige gelbe Fasern, die glitschig aus der Hand gleiten, wenn ich daran ziehe. Muss ein echter Knochenjob sein, haha. Mir reicht es jetzt, ich fackle die widerspenstigen Stränge mit dem Feuerzeug ab. Noch zwei Augen, eine Nase und ein Gruselmund geschnitzt und Kerze rein. Leuchtet. Danach blitze ich ins Innere von Schüsseln und wundere mich, dass ich Lenin sehe. Liegt es am Wermut (Artemisia absinthum), den ich seit Anfang November abends in kleinen Dosen zu mir nehme? Er kann zu Bewusstseinsstörungen und Impotenz führen. Letztere juckt mich nicht.

Montag, 2. November 2009

Sagenhafte Zabaglione

Auf der Suche nach Lesestoff für meine Tochter habe ich den Bestseller TOKYO LOVE gekauft. Darin begeistert sich eine junge Japanerin für ein Zungenpiercing, das dann langsam geweitet wird, bis das Loch in der Zungenspitze so groß ist, dass nur noch ein kleiner Fleischrand bleibt. Dieses Stück Restzunge wird mit einer Rasierklinge durchgeschnitten. Das blutet wie Sau. Am besten nimmt man etwas Eis in den Mund. Wenn die Schwellung abgeklungen ist, hat man eine gespaltene Zunge wie eine Schlange. Das muss ein unglaubliches Gefühl sein. Jedenfalls glaubt das die junge Japanerin. Das Buch ist zu Ende, bevor sie den endgültigen Schnitt macht, aber sie ist fest entschlossen.

Ich erzähle diese kurze Zusammenfassung bei einem Kennenlerndinner. Meine Tochter hat nämlich einen Freund, den kenne ich noch gar nicht, also lade ich die beiden zum Essen ein und gucke. Sie ist ein bisschen aufgeregt, er die Ruhe selbst. Er meistert meine intensive Befragung nach Herkunft, Familienverhältnissen, Lieblingsbüchern und –musik, Berufswunsch, Schulnoten und Freizeitbeschäftigungen mit Bravour. Nur einmal hebt er die Augenbrauen etwas an. Als ich während der Pizza Rucola das mit dem Zungenpiercing erzähle. Da blinzelt er schnell zu meiner Tochter hinüber. Die hat plötzlich aus nicht nachvollziehbaren Gründen einen Lachanfall. Obwohl ich nicht weiß, was sie so witzig findet, freue ich mich, dass sie sich amüsiert. Sie lacht sich die ganze Wimperntusche auf die rosigen Wangen, ich hoffe es ist kein hysterischer Anfall. Ihr Freund und ich löffeln die sagenhaft gute Zabaglione. Er sagt, er mag Fencheltee (Foeniculum vulgare), der lindert Krämpfe und Blähungen. Meine Tochter macht große Augen.

Mittwoch, 28. Oktober 2009

Wir machen mal was zu dritt

Über eines dieser Portale hat ein alter Freund Kontakt zu mir aufgenommen. Wie sich herausstellt, wohnt er auch in Berlin, aber außerhalb, im Speckgürtel. Er kommt eines Nachmittags in meinem Büro vorbei, klopft an die Scheibe und grinst. Mit einem Schlag fühle ich mich um viele Jahre zurückversetzt, er sieht genauso aus wie früher. Ist er ein Untoter? Wie kann denn jemand so gar nicht älter werden? Allerdings sagt er kurz darauf das Gleiche zu mir und ich bin garantiert keine Untote, das wüsste ich.

Während unseres Besuchs beim Italiener erzählt er mir von seiner Frau. Und von seinem Haus. Von seinem Garten. Von den Nachbarn und ihren Gärten. Von den Katzen, die einfach in seinen Garten scheißen und wie er das verhindert. Er hat Strom in den Zaun geleitet. Gähn. Dann meint er, dass wir doch mal was zu dritt machen könnten. Hm. Auf dem Tisch steht ein Kräutertöpchen mit Rosmarin (Rosmarinus officinalis) drin. Ich zerreibe eine der Nadeln mit meinen Fingerspitzen. Das ätherische Öl steigt mir in die Nase, mein Gehirn meldet mir abgespeichertes Wissen: Rosmarin vermindert Krämpfe und stärkt das Herz. Ich lächle meinen verflossenen Untoten an. Ins Theater oder in ein Konzert. Warum? Seine Frau möchte auch an seiner Vergangenheit teilhaben. Aha. Plötzlich fällt mir ein, dass er Psychologie studiert hat und als Therapeut tätig ist. Vor meinem geistigen Auge sehe ich mich bei irgendeiner Oldieband zwischen ihm und seiner Frau stehen. Ich glaube, da gehe ich lieber mit Andi in eine Cocktailbar. Sozusagen allein.

Sonntag, 25. Oktober 2009

Dr. Katja Berg

Eine Frau sitzt mir gegenüber, Dr. Katja Berg. Sie hat leuchtend blaue Augen, kurzes aschblondes Haar und ein Lächeln auf den Lippen. Ihr Alter ist schwer zu schätzen, denn ihre Haut ist glatt, ihr Ausdruck heiter. Ich weiß wie sie heißt, weil ich kurz auf ihre Fahrkarte geguckt habe. Als sie einstieg, habe ich sie für eine Nonne gehalten. Sie trägt so ein schwarzes kuttenförmiges Kleid und einen Trenchcoat. Sind Nonnen promoviert? Den Gurt ihrer Handtasche hat sie quer über ihre Brust gelegt, das sieht unbequem aus, aber sie bleibt die ganze Zeit über still so sitzen. Sieht aus dem Fenster, die Hände im Schoß. Was wohl in der Tasche ist? Das Herz Jesu, frisches Geld aus dem Automaten oder geweihte Hostien aus der Klosterbäckerei? Vielleicht auch ein geheimes Rezept der Hildegard von Bingen, ein Prototyp für eine Salbe aus dem Sumpf-Blutauge (Comarum palustre), das sich ganz christlich keusch ungeschlechtlich durch den schwach verholzten Wurzelstock vermehrt.

Dr. Berg fährt von Bielefeld nach Hannover, außer ihrer Handtasche hat sie noch einen kleinen roten Rollkoffer dabei. Wahrscheinlich ist sie keine Nonne. Viel eher ist sie Anwärterin für den Nobelpreis für Biochemie oder Astrophysik, da machen einen die kleinen Teilchen glücklich – und genau so sieht sie aus: zufrieden, eins mit sich, ruhig. Ich könnte sie mal googlen. Als Dr. Berg wieder aussteigt, sagt sie freundlich Tschüs zu mir. Ich stammle ein auf Wiedersehen.

Donnerstag, 22. Oktober 2009

Pilze aussetzen

Sind Pilze Pflanzen oder Früchte? Keine Ahnung, wahrscheinlich etwas Eigenes, da müsste ich mal eine Freundin, die Biologie studiert hat fragen oder Wikipedia. Egal, jetzt im Oktober ist ja Pilzsaison und auch im Siebengebirge sind schon früh morgens Leute mit Körben unterwegs, meistens Rentner oder Leute aus dem Osten. Früher hat meine Familie auch immer Pilze gesucht. Mein Vater kannte die wirklich guten Stellen, wo malerisch eine Runde Steinpilze im Moos wuchsen oder leuchtend gelbe Pfifferlinge. Die haben wir mit Rühreiern und Speck direkt aus der Pfanne gegessen.

Verwirrt sind die Pilzsucher, wenn sie an den üblichen guten Stellen jetzt Pilze finden, die eindeutig nicht da gewachsen sind, denn sie sind aus Wolle gehäkelt oder gestrickt. Kleine rote Fliegenpilze und dotterfarbene Schwämmchen - ausgesetzt auf trockenem Laub und schwarzer Walderde. Sie trauen sich nicht, diese Kunstpilze anzufassen, denn wer weiß, von welch böser Hand und mit mit welch übler Absicht sie hier plaziert wurden. Vielleicht sind sie mit Gift gefüllt, das bei Hautkontakt sofort Atembeschwerden und Herzstillstand bewirkt. Dabei stehen die Pilzkundigen mit ihren derben Schuhen wahrscheinlich mitten im Blutwurz (Potentilla erecta), dessen unterirdische Pflanzenteile gegen Allergien wirken und blutstillend sind, sogar beim Erbrechen von Blut. Alte Wurzelstöcke leuchten im Dunkeln. Doch das sehen die Pilzsammler nicht, denn nur die Pilzaussetzer gehen nachts in den Wald.

Freitag, 16. Oktober 2009

Mit Wolle durch den Winter

Kaum haben wir die Grenze nach Bayern überschritten, fängt es an zu schneien. Dichtes Schneetreiben peitscht über die hügeligen Wiesen. Ist ja auch schon der 16. Oktober, da fängt der Winter an. In München haben natürlich schon alle ihre modischen Fleecejacken an, Mützen, dicke Schals, Handschuhe. Ich habe mein Wolljankerl dabei, dickes schwarzes geschorenes Schaf, das kratzt wie Juckpulver auf der Haut, aber es wärmt wie nix anderes. Ich versuche immer, meine Tochter davon zu überzeugen, wie toll so eine wärmende Wolle ist, aber sie widersetzt sich hartnäckig.

Wenn man in München oder überhaupt irgendwo in Bayern in einem Hotel übernachtet und morgens den Fernseher anmacht, dann kommt diese Live-Rundschau der Berglifte von den webcams. Ich liebe diese Sendung: Kein störender Sprecher, nur diese Lounge-Musik, manchmal leicht mit volkstümlichen Elementen gefärbt und freie Sicht auf die Schneeverhältnisse in Oberstdorf, Kitzbühl und Tirol. Da schneit es heute auch überall, obwohl die Saison erst am 28. November beginnt. Aber die Einheimischen sind das gewöhnt, seit Jahrhunderten gibt es frühe Wintereinbrüche. Das weiß auch die Herbstzeitlose (Colchicum autumnale), die jetzt unterm Schnee verreckt, ihr Fruchtknoten überwintert im Boden. Und ihre klebrigen Samenanhängsel haben sich beim Viehabtrieb im September eh schon an die Hufe des Viehs geheftet.

Mittwoch, 14. Oktober 2009

Wasabi-Effekt

Ist ja schön, wenn das Glück in mir zupft wie eine Zungenspitze Wasabi. Zwei Tage kann das gehen. Wenn dann ein neuer Impuls kommt, entsprechend länger. Mein Blutdruck steigt, mein Stoffwechsel rotiert, meine Gedanken entfernen sich in Was-wäre-wenn-Galaxien. Das Glück ist ja meist eine Verliebtheit und damit sehr flüchtig. Ich habe ein paar potentielle Verliebtheiten da draußen in der kalten Welt. Andi ist eine, es gibt aber auch andere, unverhoffte. Sie müssen mich überraschen, sonst kann ich den Wasabi-Effekt knicken. Irgendwann ebbt das Hoch dann wieder ab in das gewohnte Körper- und Kopfgefühl, das ich als mein Ich kenne.

Emotionale Tiefschläge rufen eine ähnliche, aber natürlich eher unangenehme Reaktion hervor. Jenseits von rationaler Alltagseinschätzung reißen sie mich in den Schlund dunkler Hormoncocktails: heiße Haut, blinde Wut, rasender Zorn und ein gähnender Abgrund in der Bauchgegend. So als verknoteten sich die Darmschlaufen, als würde Unrat ausgekippt, giftige Galle verschüttet.

Mensch, also wirklich, wann wird mein Leben denn endlich dieser gleichmäßig fließende Strom, in dem höchstens mal ein paar Enten landen? Es ist mir nicht vergönnt, weil ich der Typ Großes Springkraut (Impatiens noli-tangere) bin. Noli me tangere war mein Lieblingsspruch außerhalb der Lateinklasse. Fass mich nicht an!

Dienstag, 13. Oktober 2009

Für Warmblütler schwach giftig

Ich träume von Moritz Bleibtreus Lippen. Fühle, wie sie an meinem Mund andocken und mich küssen. Sie decken mein halbes Gesicht zu, saugen sich fest wie einer von diesen Rohrdingern mit dem roten Gummi, mit denen man verstopfte Abflüsse bearbeitet. Ich kann nur noch durch die Haut atmen. Im Traum geht das. Ich weiß, es sind die Lippen von Moritz Bleibtreu, aber es ist nicht er, der hinter den Lippen ist. Es ist ein anderer, wahrscheinlich Andi.

Doch im Traum zählt nur der Kuss selbst, der jetzt an Intensität zunimmt, dem Druck Bewegung gibt und meinen ganzen Körper nach hinten drückt, bis mir der Nacken wehtut. Ich wache auf. Mein Oberkörper hängt über der Bettkante, ich greife nach der Bettdecke und rutsche mit ihr auf den Boden. Mann! Es ist schon eine halbe Ewigkeit her, dass ich im Schlaf aus dem Bett gefallen bin. Was für ein Traum. Mein Schlafgefährte hat nichts gemerkt. Gut. Sonst müsste ich jetzt lügen. Das kann ich nicht so überzeugend mitten in der Nacht. Ich decke uns behutsam wieder zu und schließe die Augen. Der nächste Traum handelt von der Gemeinen Hundszunge (Cynoglossum officinale), sie verströmt einen starken Mäusegeruch, wenn man sie zerreibt und ist für Warmblütler schwach giftig. Was soll das jetzt wieder bedeuten?

Freitag, 9. Oktober 2009

Einjähriges Berufskraut

Meine Tochter und ihre Freundin müssen ein dreiwöchiges Praktikum absolvieren. Andi und ich haben unsere Kontakte gecheckt, Werbeagenturen, Castingfirmen, Radio- und Fernsehsender. Ich habe meine langjährigen Erfahrungen als Bewerbungsleserin eingebracht und den beiden originelle Vorschläge für ihre Anschreiben gemacht. Damit sie aus der Masse herausstechen. Wollen sie aber gar nicht. Sie wollen so sein wie die anderen. Und eigentlich haben sie sowieso keine Lust auf so ein blödes Praktikum. Das Beste daran ist, drei Wochen keine Schule zu haben. Dafür müssen sie acht Stunden malochen.

Und, wo sind sie gelandet? In einer Kita! Herzlichen Glückwunsch. Den ganzen Tag das Geschrei der kleinen Goofen in den Ohren und auf den Knien ihrer Designerjeans Memory, Fang den Hut und Bob, der Baumeister spielen. Nachmittags gehen sie im Gänsemarsch singend in den Park und pflücken, was noch blüht, den zartlila Gemeinen Feinstrahl (Erigeron strigosus) zum Beispiel, auch bekannt als einjähriges Berufskraut. Das turnt voll ab. Danach werden sie ihren Berufswunsch jedenfalls gründlich überdenken und vielleicht ist Abi machen ja doch nicht so schlecht. Gut, dass das Praktikum nur drei Wochen dauert.

Mittwoch, 7. Oktober 2009

Schwarzes Gift aus Weißer Rübe

Herbst im Park. Die Blätter bedecken meine Laufstrecke und die Hunde scheißen mitten drauf. Bin heute in zwei versteckte Haufen gelaufen, die stinkende Masse hat gelbes Laub unter die Sohle geklebt. Hinkend, fluchend, ein Bein nachziehend wische ich das Zeug an Grasbüscheln ab, sprinte dann in eine kleine Sandgrube, um den Geruch zu neutralisieren. Das ist mein wiederkehrender Alptraum: Ich laufe in Hundekacke, die unter Blättern versteckt ist. Die Alternative wäre, nur auf dem Asphalt zu rennen. Aber ich gehe ja in den Park, um genau das nicht zu müssen.

Der Geruch an meinen Schuhen verfolgt mich den ganzen Tag. Ich habe geduscht, mir fünfmal die Hände mit Spüli und so heißem Wasser gewaschen, dass sie fast verbrannt sind. Die Schuhe stehen draußen. Soll sie doch wieder jemand klauen. Aber jetzt will sie natürlich keiner, erst, wenn ich sie gesäubert habe, den Dreck mit einem kleinen Stöckchen aus den Ritzen gefummelt und an den Zaun geschmiert habe. An dem rankt sich die Weiße Zaunrübe (Bryonia alba) hoch, äußerst giftig. Ihre schwarzen Beeren können für Kinder tödlich sein, für Hunde bestimmt auch. Ich sammle die Beeren und lasse sie bei meinem nächsten Lauf unauffällig auf das Laub fallen.

Dienstag, 6. Oktober 2009

Glück ist wenn dir kein Ziegel auf den Kopf fällt

Abstand von der Stadt schafft auch Distanz zu den urbanen Gefühlen. Was sind die Menschen freundlich hier! Kein kritisches Taxieren und Abschätzen des Coolnessfaktors, bevor man in einen eventuellen Augenkontakt tritt, der dann immer noch feindselig bis indifferent ist. Glück ist, wenn dir kein Ziegel auf den Kopf fällt, sagt meine Tochter. Wir gehen durch die etwa zweihundert Meter lange Fußgängerzone. Aber der Gedanke behagt mir nicht und ich widerspreche. Nein, Glück muss man fühlen, Glück muss einen lähmen oder überwältigen, auch wenn es nur ganz kurz ist. Sonst wäre man ja immer glücklich, weil man froh sein kann, dass einem nichts Schlimmeres passiert als das, was man so erlebt.

Dort unten fließt der Rhein. Sein Fließen macht mich wortkarg, er zieht das Denken mit seiner Strömung mit. Wir laufen stromabwärts und der Strom ist schneller, obwohl er so träge wirkt. Was bleibt mir, wenn das Denken weg ist? Sehnsucht. Meine Güte, dieses Mal ist es Sehnsucht nach der Stadt, dem Auf und Ab der Gefühle, den dunklen Löchern, in die ich falle, wenn ich mich mal wieder verrannt habe. Schwarze Löcher, die meine Energie fressen, finstere Wirbel, auf denen ich mal tanze, dann wieder zermalmen sie mich. Wo ist es jetzt besser? Stadt, Land? Ich esse Saat-Hafer (Avena sativa) mit Honig, der beruhigt, kräftigt und lindert Schlaflosigkeit.

Montag, 5. Oktober 2009

Ich würde gerne gerne lesen

Das hat die Freundin meiner Tochter anvertraut, die von sich sagt, sie könne ohne Bücher nicht leben. In diesem Alter neigen sie zu klaren Aussagen. Ich kann nicht ohne Bücher leben, ich hasse Pferde, weiße Stiefel sind scheiße und Sex on the Beach ist voll geil.

Meine Tochter verschlingt Bücher, am liebsten mag sie Problemgeschichten mit magersüchtigen Mädchen, die sich die Haut ritzen oder Mädchen mit Borderline oder Mädchen, die sich in Vampire verlieben. Ich habe auch einige dieser Bücher gelesen. Gar nicht so übel. Das gerne lesen hat sie wahrscheinlich von mir, obwohl ihr Vater auch eine beeindruckende Bücherwand in seinem Zimmer hat. Vielleicht ist sie auch von zwei Seiten mit literarischem Interesse versehen worden, jedenfalls neidet ihre Freundin ihr dieses Sich-Versenken in die Fiktion, weil sie einfach nicht gerne liest. Sie würde aber gerne gerne lesen wollen.

Vielleicht kann man das gerne lesen üben, sich einfach penetrant mit einem Buch niederlassen und an nichts anderes denken. Sich nicht ablenken lassen von schönem Wetter, Schule oder Abendessen mit der Familie. Einfach weiterlesen, bis es sie packt. Gegen Entzündung und Müdigkeit der Augen kann sie eine 2-minütige Abkochung von Gemeinem Augentrost (Euphrasia rostkoviana) auftragen und dann weiterlesen.

Mittwoch, 30. September 2009

Porn Horns

Im Olympiapark in München sitzen wir mit Weißbierbechern auf der steilen Wiese, meine Tochter, meine Freundin und ich. Da unten ist die Bühne und Salteria and the Porn Horns spielen Ska. Andi, der Sänger, sieht aus wie ein Jurist, der gerade aus dem Büro kommt und noch kurz eine Session einlegt. Doch der Schein trügt. Andi ist großartig, ein charismatischer Sänger, der sich nach dem zweiten Lied die Jacke vom Körper reißt und in breitem bayrisch seine Spezln grüßt.

Wir drei Mädels sehen uns mit großen Augen an und grinsen: Der Andi ist geil! Die Pornohörner blasen die Stimmung auf, das Bier schwappt auf den Rasen. Erst haben nur die Kinder getanzt, jetzt ist die Tanzfläche gerammelt voll. Und wirklich, es hält uns kaum auf dem Geißenplatz, festgekrallt in den staubigen Hang wanken und zucken wir wild hin und her. Wir zertreten in unserer Trance das Gemeine Hirtentäschelkraut (Capsella bursa-pastoris), das hier trotz der Menschenmengen wächst und seiner Zuschreibung „Kulturbegleiter“ trotzig alle Ehre macht. Das Punk-Reggae-Gemisch rockt. Andi zieht sein T-Shirt aus, ein weißer Torso, in dem eine schwarze Stimme wohnt. Die Mädels grölen ohne Scham. Die Atmosphäre ist aufgeheizt, die Sonne verschwindet hinter der siebziger-Jahre-Architektur. Bayern ist mal wieder eine Reise wert.

Dienstag, 29. September 2009

Fellverhältnis

Zwei Leopardenweibchen sind in die Regionalbahn eingestiegen. Verdutzt schauen die Leute auf, draußen dämmert es. Die Leopardenweibchen nehmen Platz und ziehen ihre Leopardenmäntel aus. Darunter tragen sie Leopardenkleider, etwas unterschiedlich gemustert, das Kleid des einen Weibchens hat größere Leopardenflecken und ist gelber im Grundton. Beide Weibchen sind blond bzw. blondiert und haben stark mascarierte Wimpern. Die Augen glotzen dadurch ein wenig. Spontan erinnern sie mich an Fratzenorchis (Aceras anthropophorum), eine stark gefährdete Orchideenart.

Sie fragen den Schaffner, der sich vorsichtig heranpirscht, ob der Zug bis nach Koblenz fährt. Aber der Zug fährt heute nur bis Linz und dann müssten sie auf dem Bahnsteig eine halbe Stunde warten. Der Schaffner geht einen Schritt zurück, vielleicht aus Angst vor einer Aggression. Aber die Leopardenweibchen sind ganz freundlich und sagen, das macht ihnen nichts aus. Sie hätten ja ihre Leopardenmäntel. Dann unterhalten sich die beiden angeregt in ihrer Leopardensprache. Die Leute schauen absichtlich weg, müssen aber immer wieder hingucken, weil Worte wie Fellverhältnis, Fleckensalz und Fertigbeute in der Luft hängen. Das eine Leopardenweibchen öffnet seine karierte Burberrytasche, holt ein kleines Döschen heraus und streicht sich behutsam etwas Tigerbalsam auf die samtige Schläfe

Montag, 28. September 2009

Meine Tochter, ihre Freundin, Andi, mein Schlafgefährte und ich

Das sind meine vier Hauptbezugspersonen. Es gibt natürlich noch weitere Familienmitglieder, Freundinnen und Freunde, Bekannte und Exbekannte, aber diese vier sind sozusagen seelenverwandt mit mir. Untereinander kennen wir uns unterschiedlich gut, doch darauf kommt es nicht an, sie sind ja nur seelenverwandt mit MIR und nicht auch noch gegenseitig miteinander. Das wäre zuviel des Guten. Da gibt es andere Schnittmengen mit weiteren Bezugspersonen. Bildlich gesprochen greifen wir wie die Olympischen Ringe ineinander, nur vielleicht nicht so symmetrisch, es gibt kleinere und größere Kreise, die Soziologie würde sagen Cluster. Na ja, egal. Jedenfalls ist das mein kleines Universum, in dem ich mich zu Hause fühle.

Meiner Tochter und ihrer Freundin habe ich von Andi erzählt, meinem Schlafgefährten nicht. Das würde eventuell zu Komplikationen führen. Andi hat keinen Kontakt zu meiner Bezugsgruppe außer zu mir, aber er kennt alle aus meinen Erzählungen, auch meinen Schlafgefährten. Andi hat ein eigenes Universum. Manchmal sind wir Lichtjahre voneinander entfernt; diese Wahnsinnsentfernung bereitet mir körperliche Schmerzen. Ich tröste mich dann mit meinem Schlafgefährten. Meine Tochter sagt, das wäre OK.

Seelenverwandtschaft ist sehr schön, man kann gemeinsam über die blödesten Dinge lachen, die eigentlich gar nicht witzig sind. Man guckt sich an – zack – schon grölt man los. Oder man wogt sich seelig im schlafenden Atem des anderen und hofft, dass die nächste Disharmonie noch ganz weit weg ist. Wir sind wie diese merkwürdigen Pflanzengattungen, einzigartige Froschlöffelgewächse (Alisma plantago-aquatica) oder graziöse Schwanenblumengewächse (Bumotus umbellatus), die im Sumpf symbiotisch nebeneinander vegetieren.

Freitag, 25. September 2009

Ich schwanke!

Gibt es ein Kraut, das einen vor Wiederholungen schützt? Ich brauche das dringend, weil ich immer wieder auf den gleichen Mist reinfalle. Ich bin mit billigsten und banalsten Schmeicheleien zu ködern. Ich fahre da total drauf ab und kann überhaupt nicht spielerisch damit umgehen. Irgendein postpubertäres Hormon schüttet sich in mir aus und vernebelt mir den klaren Blick, die geliebte Ratio und das sichere Auftreten. Ich schwanke! Ich denke an Dinge, die nichts im Büro zu suchen haben!

Dagegen muss es doch was geben. Ich schaue bei den Bachblüten nach. Vielleicht hilft Tausendgüldenkraut (Centaurium minus) – das ist gegen Willensschwäche, leichte Beeinflussbarkeit und die Tendenz zur Unterwürfigkeit. Also, normalerweise bin ich gar nicht so, nur in solchen Wiederholungssituationen. Ich bin nämlich nicht einer von diesen freundlichen, ruhigen und sanften Menschen, die ihr eigenes Lebensziel vernachlässigen, nur um anderen zu helfen. Ich bin das krasse Gegenteil! Aber wenn mich eine Schmeichelei vergiftet hat, sickert die Standhaftigkeit aus mir heraus wie Ahornsirup. Ich möchte schmelzen, möchte dienen und ganz in Harmonie versinken.

Centaurium soll helfen, anderen zu dienen, ohne seine Eigenart aufzugeben und "ohne sein höheres Selbst durch das unkritische Befolgen der Meinungen und Ansprüche anderer zu verraten". Ich muss es wohl ausprobieren, um seine Wirkung zu erfahren. Vorstellen kann ich es mir nicht.

Donnerstag, 24. September 2009

Fuckin` Andi

Obwohl ich heute die Cowboystiefel trage, den dicken Gürtel und die gestickte mexikanische Bluse, bin ich emotional überrumpelt worden. Habe mich morgens nach dem Holzfällermüsli so stark gefühlt. Bin mit federndem Schritt über die Bodendielen gelaufen und habe meine to-do-Liste in null komma nix abgearbeitet, bis ich nach dem Mittagslauf im Park unverhofft Kontakt mit Andi hatte. F…! OK, ich habe eine Mail geschrieben, aber rein geschäftlich! Ich musste das tun, es stand auf der Liste. Habe einen obergeschäftsmäßigen Ton angeschlagen und dann kommt so eine weichgespülte, softe, völlig unverhoffte Antwort, die mich innen ganz kleingeschrumpft hat.

Dann hat sich diese Erbse aufgepumpt und in mir breit gemacht bis ich nur noch Erbse war. Hin und her gingen die Mails, nervöses Klopfen mit den Fingern dazwischen. Und schwupps, schon waren wir wieder Freunde! Oder habe ich mir das alles eingebildet? Bin ich denn total bescheuert? Ist ja eigentlich nett von ihm, dass er nicht nachtragend ist. Ich habe ihn schließlich menschlich enttäuscht, er mich nur kommunikativ. Menschliche Enttäuschung geht emotional viel tiefer. Aber warum ist denn der Mann so emotional im Geschäft? Macht er das bei jeder Kundin, um seinen Charme auszuprobieren? Keine Ahnung. Jetzt muss ich diese Schwarzwerdende Platterbse (Lathyrus niger) wieder loswerden. Im Moment liegt sie auf meiner Matratze und ich kann deshalb wahrscheinlich nicht einschlafen!

Montag, 21. September 2009

Täuschender Zweizahn

Niedrigwasser am Rheinufer, Altweibersommer, es riecht modrig nach Fisch. Auf der Suche nach einem Sandstrand finden wir Schlamm, Kiesel und Scherben. Ist trotzdem schön, wir sind ganz allein außer dem Angler ganz vorn an der Mole, die sich in den Fluss schiebt. Wir sammeln gebleichte Stöcke und werfen sie in die Strömung. Sie kommen zurück. Den Tsunami-effekt kann man hier en miniature beobachten: Draußen fährt ein großer Kahn "Containerschiff!" vorbei, reißt ein Loch ins Wasser, zieht die Stöcke aus der Bucht, fegt den Strand leer. Ist das Schiff vorbei, fließen die Stöcke zurück. "Die Stöcke sind wieder da!" Den ganzen Nachmittag. Die Spinnen fliegen an ihren Fäden durch die Luft. Bleiben hängen am Täuschenden Zweizahn (Bidens connata), wer täuscht hier wen?

Mittwoch, 16. September 2009

Rosskastanie

Erstaunlich, dass aus den hässlich verschrumpelten Baumkronen noch so glänzende Kastanien fallen. Auf der Straße platzen sie auf, gelbe Innereien, weiße Raupen. Kein Mensch würde auf die Idee kommen, dass diese Früchte genau das richtige für seine Stadtkrankheit sind: Hämorrhoiden, Unterschenkelgeschwüre, Krampfadern, Trombosen, Schwellungen, Migräne. Sogar bei Gehirnschlag hilft die Rosskastanie (Aesculus hippocastanum).

Gestern dachte ich, mich trifft der Schlag. Als ich nämlich meine Laufschuhe wieder reinholen wollte, die ich zum Lüften kurz vor die Tür gestellt hatte. Weg! Geklaut! Jeden Tag stelle ich die da hin, wenn ich von meiner Runde im Park wiederkomme, mache meine Dehnübungen (gegen Krampfadern s.o.) und gehe dann duschen. In der Zeit hat sich jemand meines miefenden Schuhwerks bemächtigt. Na, viel Spaß damit!

Donnerstag, 10. September 2009

Engelwurz

Auf jedem Tisch liegt eine Fliegenklatsche gegen die Wespen. Wir bestellen Wurstsalat und eine Schinkenplatte, die auf einem gefakten Holzbrett serviert wird, scheuchen uns gegenseitig die Viecher vom Essen. Nach drei Weißbieren wird es lustig, wir haben schon vierzehn Wespen erschlagen. Die Gäste an den anderen Tischen machen es genauso, keiner stört sich an diesem Massenmord.

Im Biergarten summt der Abend, Mückenschwärme erheben sich in die Luft. Ein paar Meter weiter ist die Kuhweide, wir können den Stall riechen. Sieht so aus, als wären wir die Einzigen, die nicht mit dem Auto da sind. Wir müssen noch aus diesem Tal herauswandern, einmal steil bergauf, die Hochebene überqueren und wieder hinunter ins Nachbartal, wo wir wohnen. Wir kichern, weil wir ständig pieseln müssen, so sagen die Einheimischen dazu. Ab in die Büsche, rein ins Dickicht.

Plötzlich schnüffelt da etwas. Wir kreischen wie Schulmädchen aus dem letzten Jahrhundert und flüchten zurück auf den Waldweg. Da ist die Markierung, hier sind wir sicher. Wilde Tiere bleiben im Holz. Wir spekulieren, was das für ein Geräusch war und beschleunigen unseren Gang, stolpern durch den Wald nach Hause. Wo der Weg aus den Bäumen führt, wachsen Engelwurz-Stauden (Archangelica officinalis): Sie sind bekannt für ihre harntreibende Wirkung. Wir brauchen sie nicht.

Montag, 7. September 2009

Lämmersalat

Kann sein, dass die Einheimischen das ansonsten fast völlig unbekannte Elisental kennen, ein Seitental der Sieg auf der Höhe von Schladern, einem dieser Orte, an dem nicht einmal griechische Restaurants überleben. Das Tal macht einen merkwürdig verlassenen Eindruck. Mit den Ruinen der Pulverfabrik, die über einen Kilometer berauf im Dickicht verstreut stehen, ist es abschnittsweise sogar unheimlich. Dann nämlich, wenn schwarze Öffnungen direkt in den Berg führen und wir vom Weg nicht erkennen können, wie weit es da rein geht.

Die Pulverfabrik ist vor ungefähr 100 Jahren explodiert, das Schwarz- und Schießpulver hat sich in die Reste des Mauerwerks eingebrannt. Durch die verlassenen Fabrikgebäude fließt ein Bach, der sich in Senken zu moorigen Tümpeln staut. Wir laufen den Weg entlang, hören nur das Summen der Bienen in der Sumpfvegetation, zählen die absurd orangefarbenen Nacktschnecken auf dem feuchten Boden und staunen über abertausend Minifrösche, die sich im Mulch tummeln. Die Rindenreste liegen in großen geordneten Inseln am Wegrand und duften nach Holz. Es gibt für die Spaziergänger/innen, die hier nicht hinkommen, zwei Schautafeln. Sie geben einen Überblick über den Bachverlauf im Elisental und markieren die Überreste der Pulverfabrik, deren Mauern über einen Meter dick sind. Dreißig Männer haben hier während der vorletzten Jahrhundertwende gearbeitet, haben aus Schwefel und so Schießpulver hergestellt, bis ihnen die Fabrik um die Ohren geflogen ist.

Der Blick in den Wald ist nur kurz, er ist finster und feindselig. Schnell wende ich die Augen wieder ab und trotzdem verfolgen mich die grausigen Möglichkeiten dieser Schwärze mehrere Tage und Nächte. Zu viele Thriller, Science Fiction und Vampirromane? Hier sind wir, allein im Wald, leichte Beute! Ich schwinge meinen Stock über die Gräser, versuche es mit Ablenkung, Pflanzen bestimmen. Bleibe beim Lämmersalat (Arnoseris minima) hängen, das baut mich jetzt auch nicht auf.

Montag, 31. August 2009

Klebkraut

Wenn ich an einem heißen Tag morgens in Neukölln vor meine Haustür trete, stinkt es nach Hundekacke, auch direkt neben der Bäckerei. Die Autodächer sind dick mit dem klebrigen Saft der Lindenblüten bedeckt und der Staub färbt mehr oder weniger geometrische Muster darauf ein. Ein kurzer Gedanke an Michael Jackson, ruhe er in Frieden, und seinen Mundschutz, jetzt, wo der Straßenreiniger die ganze Soße pulverisiert in die Atemluft wirbelt.

Die Müllabfuhr hat mich heute Morgen um sieben geweckt, nein, eigentlich hat mich der Handwerker geweckt, der über mir wohnt und der immer um fünf Uhr aufsteht. Grundsätzlich bin ich froh, dass die Müllabfuhr zweimal in der Woche kommt, dazu noch die Wertstoffabfuhr und Glastonne, alle an einem anderen Tag, klar. Ab meiner Haustür schaue ich dann, wenn es geht, nicht mehr auf den Boden, konzentriere mich auf die Musik in meinen Ohren. Das mit dem bewusst nicht hinschauen ist tückisch, denn das neugierige Hirn macht diese Verweigerungshaltung nicht mit. Entlang des Maschendrahtzauns von ehemals Tempelhof wuchert jetzt Vegetation, für die niemand mehr zuständig ist. In einem kurzen Heckenabschnitt konzentriert sich noch einmal stechender Geruch, der von quer laufenden Urinspuren stammt und verborgenem Unrat in den Büschen, von dem ich nicht wissen will, was es ist.

Einmal, nach einem kurzen Regen, sah ich so etwas wie einen abgeschnittenen Finger im Gras liegen, oder eine Zunge, irgendetwas Längliches. Zwischen den Metallrauten des Zauns windet sich Klebkraut (Galium aparine), das kennt ihr alle, ihr Stadtmenschen mit den Stöpseln in den Ohren.

Mittwoch, 26. August 2009

Dreiteiliger Zweizahn

So häufig war ich schon in den Bergen, aber noch nie habe ich einen derart klaren Bach gesehen, den Goldbach.

Ganz unverhofft sind wir in diesem Sommer auf einer Wanderung zu einem anderen Bach, der Leitzach, auf ihn gestoßen, haben uns aber befremdet gleich wieder abgewandt, weil so etwas wie eine esoterische Kräuterhexe mit einem brennenden Ast in der Hand an seinem sandigen Ufer hockte und ins Wasser lächelte. Ein Blick auf die hennagefärbte Langhaarige mit der Lederhaut genügte, um uns bergaufwärts in die Flucht zu schlagen. Wir haben die ganze Pracht des Goldbachs dann erst bei unserer Rückkehr von der Leitzach bewundert. In die schwache Strömung der Leitzach haben wir nur kurz gepinkelt, nachdem wir uns entschieden hatten, nicht im seichten Wasser zu baden, weil es schon fast Abend war und viele Mücken herumschwirrten. Unsere Stiche vom Tag zuvor, als wir bei Sonnenuntergang in der Mangfall, einem kleinen Fluss in der Nähe unseres Feriendorfes, gebadet haben, juckten noch auf der Haut. In der Mangfall waren kurz vorher zwei Erwachsene ertrunken, als sie zwei Kinder retteten. In den Staustufen kann man wunderbar schwimmen, aber nur, wenn der Fluss nicht zu viel Wasser führt und die Strudel einen auf den Grund ziehen.

Der Goldbach läuft einige Kilometer quer zum Berghang und wird direkt aus mehreren Quellen gespeist. Ohne sichtbare Fließbewegung gibt er sein magisch klares Wasser weiter. Wanderer geraten in einen Bann, kommen bei seiner Betrachtung vom Weg ab und holen sich nasse Füße. Ich möchte mich am liebsten gleich ganz hineinlegen in den eiskalten Bach und Gold werden. Gut, dass ich nicht alleine hier bin und das Bachbett zu meiner ewigen Ruhestätte erkläre. Ich reiße noch schnell ein paar Stengel vom Dreiteiligen Zweizahn (Bidens tripartia) aus, um meinen Stoffwechsel in Schwung zu bringen. Der zauberhafte Goldbach muss wieder aus meinem System heraus.

Dienstag, 25. August 2009

Quecke

Jeden Morgen stehen wir früh auf und joggen auf Feldwegen rund um das Dorf. In unserer unausgeschlafenen Feriennaivität denken wir, wir wären die einzigen, die sich im Frühtau den Restalkohol aus dem Blut schwemmen, falsch. Wir tragen Sportbrille und Schirmmütze, damit die Augenringe nicht das fröhliche Grüß Gott an die anderen Läufer trüben, ein kurzer Blick auf die Marke der Runningwear. Es gibt so viele Outletcenter in den Voralpen, dass man schön blöd wäre, mit no name Sportklamotten hier herumzulaufen.

Die Maitais von gestern Abend machen uns kurzatmig. Am Betonufer des Stausees hocken Angler, ein junger Landwirt brettert mit seinem Trecker über den Acker und verpestet die Luft. Er lacht laut. Über uns? War er gestern auf unserer Singstar-Party? Ich kann mich nicht an ihn erinnern. Aber ich stand die meiste Zeit über in der Küche und habe die Cocktails gemixt. Unser Gesang hat die Dorfjugend mutig gemacht. Plötzlich waren ganz viele Leute im Wohnzimmer, die versuchten Hochdeutsch mit uns zu reden. Wenn ich bayrisch antwortete, haben alle mit den Augen gerollt.

Na und? Als das Weißbier aus dem Kühlschrank im Keller alle war, sind wir auf hochprozentige Drinks umgestiegen. Drapiert mit allerlei heimischem Obst habe ich die Getränke in Starbucksbechern aus der ganzen Welt serviert. Das sind eigentlich Kaffeetassen, aber davon gibt es eine unbegrenzte Anzahl überall im ganzen Haus. Der abwesende Hausherr ist ein weitgereister Tassensammler. Wir haben die Zweckentfremdung für uns behalten, man weiß als Hausgast ja auch nicht, ob das Sammelgut überhaupt benutzt werden darf. Aber mal ehrlich – Starbuckstassen aus den Metropolen der ganzen Welt eignen sich ausgezeichnet als Cocktailgefäße. Man kann sie auch nach dem Verlust der Feinmotorik sicher irgendwo abstellen ohne dass etwas verschüttet wird oder die Tasse selbst ins Wanken gerät. Für die Dorfjugend nach dem Bierkrug das ideale Trinkgefäß. An den Rändern unserer Joggingstrecke wächst die Quecke (Agropyron repens) mit langem, kriechendem Wurzelstock. Als Frischsaft auf einen Teelöffel geträufelt löst sie Nieren- und Harnsteine auf und schützt die Schleimhäute. Das perfekte Mittel für Urlaub in Bayern.

Montag, 24. August 2009

Eisenkraut

Der Absprung vom Berg ist unspektakulär. Wir breiten den Schirm fächerartig hinter uns aus, hoffen, dass kein Idiot über die Schnüre stolpert und rennen mit kräftigem Schritt den Abgrund hinunter, das Geröll in den Berg stampfend, die Kräuter zermalmend. Dann hat sich der Wind schon unter das Hightech-Material geschoben und lässt uns über die Tannen driften. Wir schrauben uns auf den Wogen der Aufwinde immer höher in die Luft. Ein erhabener Moment, schließlich fliegen wir.

Das Fliegen ist laut, der Wind rauscht in den Ohren, er rüttelt am Schirm und am Anorak, pfeift und ächzt und dröhnt. Als wolle er sich beschweren, dass wir bequem in diesem Flugsessel sitzen, Businessclass sozusagen, und uns unbeschwert, aber auf seine Kosten, ein bisschen nach oben und dann wieder ein wenig nach unten bewegen. Wir gleiten über die Baumwipfel und erkennen die Isar als silbernes Band unter uns. Später werden wir an ihrem Ufer auf die Schirme nach oben gucken. Ich tauche meinen blassen Fuß in das eiskalte Wasser, bei der Landung auf der Viehwiese habe ich den Knöchel verstaucht. Wir dachten, wir könnten mal so easy aufsetzen und haben uns dann zum Vergnügen der anderen Fluggäste, die schon weich gelandet waren, im Geschirr verheddert und überschlagen. Die Schmach in unseren Gesichtern hat der rote Schirm zugedeckt.

Die Kiesstrände der Isar zwischen Lenggries und Bad Tölz sind Südsee. Die Hitze über den Kieseln flimmert, Lethargie macht sich breit. Der Fuß ist im Wasser gefühllos geworden, der Blick auf den bayernblauen Himmel und die grüne Strömung brennen sich ins Gehirn. Im Schutt liegt verwaschenes Treibholz, dazwischen reckt sich Eisenkraut (Verbena officinalis). Es dämpft psychogenen Kopfschmerz und leichte Trigemus-Neuralgie. Für mich genau das Richtige in diesem Moment.