Mittwoch, 30. September 2009

Porn Horns

Im Olympiapark in München sitzen wir mit Weißbierbechern auf der steilen Wiese, meine Tochter, meine Freundin und ich. Da unten ist die Bühne und Salteria and the Porn Horns spielen Ska. Andi, der Sänger, sieht aus wie ein Jurist, der gerade aus dem Büro kommt und noch kurz eine Session einlegt. Doch der Schein trügt. Andi ist großartig, ein charismatischer Sänger, der sich nach dem zweiten Lied die Jacke vom Körper reißt und in breitem bayrisch seine Spezln grüßt.

Wir drei Mädels sehen uns mit großen Augen an und grinsen: Der Andi ist geil! Die Pornohörner blasen die Stimmung auf, das Bier schwappt auf den Rasen. Erst haben nur die Kinder getanzt, jetzt ist die Tanzfläche gerammelt voll. Und wirklich, es hält uns kaum auf dem Geißenplatz, festgekrallt in den staubigen Hang wanken und zucken wir wild hin und her. Wir zertreten in unserer Trance das Gemeine Hirtentäschelkraut (Capsella bursa-pastoris), das hier trotz der Menschenmengen wächst und seiner Zuschreibung „Kulturbegleiter“ trotzig alle Ehre macht. Das Punk-Reggae-Gemisch rockt. Andi zieht sein T-Shirt aus, ein weißer Torso, in dem eine schwarze Stimme wohnt. Die Mädels grölen ohne Scham. Die Atmosphäre ist aufgeheizt, die Sonne verschwindet hinter der siebziger-Jahre-Architektur. Bayern ist mal wieder eine Reise wert.

Dienstag, 29. September 2009

Fellverhältnis

Zwei Leopardenweibchen sind in die Regionalbahn eingestiegen. Verdutzt schauen die Leute auf, draußen dämmert es. Die Leopardenweibchen nehmen Platz und ziehen ihre Leopardenmäntel aus. Darunter tragen sie Leopardenkleider, etwas unterschiedlich gemustert, das Kleid des einen Weibchens hat größere Leopardenflecken und ist gelber im Grundton. Beide Weibchen sind blond bzw. blondiert und haben stark mascarierte Wimpern. Die Augen glotzen dadurch ein wenig. Spontan erinnern sie mich an Fratzenorchis (Aceras anthropophorum), eine stark gefährdete Orchideenart.

Sie fragen den Schaffner, der sich vorsichtig heranpirscht, ob der Zug bis nach Koblenz fährt. Aber der Zug fährt heute nur bis Linz und dann müssten sie auf dem Bahnsteig eine halbe Stunde warten. Der Schaffner geht einen Schritt zurück, vielleicht aus Angst vor einer Aggression. Aber die Leopardenweibchen sind ganz freundlich und sagen, das macht ihnen nichts aus. Sie hätten ja ihre Leopardenmäntel. Dann unterhalten sich die beiden angeregt in ihrer Leopardensprache. Die Leute schauen absichtlich weg, müssen aber immer wieder hingucken, weil Worte wie Fellverhältnis, Fleckensalz und Fertigbeute in der Luft hängen. Das eine Leopardenweibchen öffnet seine karierte Burberrytasche, holt ein kleines Döschen heraus und streicht sich behutsam etwas Tigerbalsam auf die samtige Schläfe

Montag, 28. September 2009

Meine Tochter, ihre Freundin, Andi, mein Schlafgefährte und ich

Das sind meine vier Hauptbezugspersonen. Es gibt natürlich noch weitere Familienmitglieder, Freundinnen und Freunde, Bekannte und Exbekannte, aber diese vier sind sozusagen seelenverwandt mit mir. Untereinander kennen wir uns unterschiedlich gut, doch darauf kommt es nicht an, sie sind ja nur seelenverwandt mit MIR und nicht auch noch gegenseitig miteinander. Das wäre zuviel des Guten. Da gibt es andere Schnittmengen mit weiteren Bezugspersonen. Bildlich gesprochen greifen wir wie die Olympischen Ringe ineinander, nur vielleicht nicht so symmetrisch, es gibt kleinere und größere Kreise, die Soziologie würde sagen Cluster. Na ja, egal. Jedenfalls ist das mein kleines Universum, in dem ich mich zu Hause fühle.

Meiner Tochter und ihrer Freundin habe ich von Andi erzählt, meinem Schlafgefährten nicht. Das würde eventuell zu Komplikationen führen. Andi hat keinen Kontakt zu meiner Bezugsgruppe außer zu mir, aber er kennt alle aus meinen Erzählungen, auch meinen Schlafgefährten. Andi hat ein eigenes Universum. Manchmal sind wir Lichtjahre voneinander entfernt; diese Wahnsinnsentfernung bereitet mir körperliche Schmerzen. Ich tröste mich dann mit meinem Schlafgefährten. Meine Tochter sagt, das wäre OK.

Seelenverwandtschaft ist sehr schön, man kann gemeinsam über die blödesten Dinge lachen, die eigentlich gar nicht witzig sind. Man guckt sich an – zack – schon grölt man los. Oder man wogt sich seelig im schlafenden Atem des anderen und hofft, dass die nächste Disharmonie noch ganz weit weg ist. Wir sind wie diese merkwürdigen Pflanzengattungen, einzigartige Froschlöffelgewächse (Alisma plantago-aquatica) oder graziöse Schwanenblumengewächse (Bumotus umbellatus), die im Sumpf symbiotisch nebeneinander vegetieren.

Freitag, 25. September 2009

Ich schwanke!

Gibt es ein Kraut, das einen vor Wiederholungen schützt? Ich brauche das dringend, weil ich immer wieder auf den gleichen Mist reinfalle. Ich bin mit billigsten und banalsten Schmeicheleien zu ködern. Ich fahre da total drauf ab und kann überhaupt nicht spielerisch damit umgehen. Irgendein postpubertäres Hormon schüttet sich in mir aus und vernebelt mir den klaren Blick, die geliebte Ratio und das sichere Auftreten. Ich schwanke! Ich denke an Dinge, die nichts im Büro zu suchen haben!

Dagegen muss es doch was geben. Ich schaue bei den Bachblüten nach. Vielleicht hilft Tausendgüldenkraut (Centaurium minus) – das ist gegen Willensschwäche, leichte Beeinflussbarkeit und die Tendenz zur Unterwürfigkeit. Also, normalerweise bin ich gar nicht so, nur in solchen Wiederholungssituationen. Ich bin nämlich nicht einer von diesen freundlichen, ruhigen und sanften Menschen, die ihr eigenes Lebensziel vernachlässigen, nur um anderen zu helfen. Ich bin das krasse Gegenteil! Aber wenn mich eine Schmeichelei vergiftet hat, sickert die Standhaftigkeit aus mir heraus wie Ahornsirup. Ich möchte schmelzen, möchte dienen und ganz in Harmonie versinken.

Centaurium soll helfen, anderen zu dienen, ohne seine Eigenart aufzugeben und "ohne sein höheres Selbst durch das unkritische Befolgen der Meinungen und Ansprüche anderer zu verraten". Ich muss es wohl ausprobieren, um seine Wirkung zu erfahren. Vorstellen kann ich es mir nicht.

Donnerstag, 24. September 2009

Fuckin` Andi

Obwohl ich heute die Cowboystiefel trage, den dicken Gürtel und die gestickte mexikanische Bluse, bin ich emotional überrumpelt worden. Habe mich morgens nach dem Holzfällermüsli so stark gefühlt. Bin mit federndem Schritt über die Bodendielen gelaufen und habe meine to-do-Liste in null komma nix abgearbeitet, bis ich nach dem Mittagslauf im Park unverhofft Kontakt mit Andi hatte. F…! OK, ich habe eine Mail geschrieben, aber rein geschäftlich! Ich musste das tun, es stand auf der Liste. Habe einen obergeschäftsmäßigen Ton angeschlagen und dann kommt so eine weichgespülte, softe, völlig unverhoffte Antwort, die mich innen ganz kleingeschrumpft hat.

Dann hat sich diese Erbse aufgepumpt und in mir breit gemacht bis ich nur noch Erbse war. Hin und her gingen die Mails, nervöses Klopfen mit den Fingern dazwischen. Und schwupps, schon waren wir wieder Freunde! Oder habe ich mir das alles eingebildet? Bin ich denn total bescheuert? Ist ja eigentlich nett von ihm, dass er nicht nachtragend ist. Ich habe ihn schließlich menschlich enttäuscht, er mich nur kommunikativ. Menschliche Enttäuschung geht emotional viel tiefer. Aber warum ist denn der Mann so emotional im Geschäft? Macht er das bei jeder Kundin, um seinen Charme auszuprobieren? Keine Ahnung. Jetzt muss ich diese Schwarzwerdende Platterbse (Lathyrus niger) wieder loswerden. Im Moment liegt sie auf meiner Matratze und ich kann deshalb wahrscheinlich nicht einschlafen!

Montag, 21. September 2009

Täuschender Zweizahn

Niedrigwasser am Rheinufer, Altweibersommer, es riecht modrig nach Fisch. Auf der Suche nach einem Sandstrand finden wir Schlamm, Kiesel und Scherben. Ist trotzdem schön, wir sind ganz allein außer dem Angler ganz vorn an der Mole, die sich in den Fluss schiebt. Wir sammeln gebleichte Stöcke und werfen sie in die Strömung. Sie kommen zurück. Den Tsunami-effekt kann man hier en miniature beobachten: Draußen fährt ein großer Kahn "Containerschiff!" vorbei, reißt ein Loch ins Wasser, zieht die Stöcke aus der Bucht, fegt den Strand leer. Ist das Schiff vorbei, fließen die Stöcke zurück. "Die Stöcke sind wieder da!" Den ganzen Nachmittag. Die Spinnen fliegen an ihren Fäden durch die Luft. Bleiben hängen am Täuschenden Zweizahn (Bidens connata), wer täuscht hier wen?

Mittwoch, 16. September 2009

Rosskastanie

Erstaunlich, dass aus den hässlich verschrumpelten Baumkronen noch so glänzende Kastanien fallen. Auf der Straße platzen sie auf, gelbe Innereien, weiße Raupen. Kein Mensch würde auf die Idee kommen, dass diese Früchte genau das richtige für seine Stadtkrankheit sind: Hämorrhoiden, Unterschenkelgeschwüre, Krampfadern, Trombosen, Schwellungen, Migräne. Sogar bei Gehirnschlag hilft die Rosskastanie (Aesculus hippocastanum).

Gestern dachte ich, mich trifft der Schlag. Als ich nämlich meine Laufschuhe wieder reinholen wollte, die ich zum Lüften kurz vor die Tür gestellt hatte. Weg! Geklaut! Jeden Tag stelle ich die da hin, wenn ich von meiner Runde im Park wiederkomme, mache meine Dehnübungen (gegen Krampfadern s.o.) und gehe dann duschen. In der Zeit hat sich jemand meines miefenden Schuhwerks bemächtigt. Na, viel Spaß damit!

Donnerstag, 10. September 2009

Engelwurz

Auf jedem Tisch liegt eine Fliegenklatsche gegen die Wespen. Wir bestellen Wurstsalat und eine Schinkenplatte, die auf einem gefakten Holzbrett serviert wird, scheuchen uns gegenseitig die Viecher vom Essen. Nach drei Weißbieren wird es lustig, wir haben schon vierzehn Wespen erschlagen. Die Gäste an den anderen Tischen machen es genauso, keiner stört sich an diesem Massenmord.

Im Biergarten summt der Abend, Mückenschwärme erheben sich in die Luft. Ein paar Meter weiter ist die Kuhweide, wir können den Stall riechen. Sieht so aus, als wären wir die Einzigen, die nicht mit dem Auto da sind. Wir müssen noch aus diesem Tal herauswandern, einmal steil bergauf, die Hochebene überqueren und wieder hinunter ins Nachbartal, wo wir wohnen. Wir kichern, weil wir ständig pieseln müssen, so sagen die Einheimischen dazu. Ab in die Büsche, rein ins Dickicht.

Plötzlich schnüffelt da etwas. Wir kreischen wie Schulmädchen aus dem letzten Jahrhundert und flüchten zurück auf den Waldweg. Da ist die Markierung, hier sind wir sicher. Wilde Tiere bleiben im Holz. Wir spekulieren, was das für ein Geräusch war und beschleunigen unseren Gang, stolpern durch den Wald nach Hause. Wo der Weg aus den Bäumen führt, wachsen Engelwurz-Stauden (Archangelica officinalis): Sie sind bekannt für ihre harntreibende Wirkung. Wir brauchen sie nicht.

Montag, 7. September 2009

Lämmersalat

Kann sein, dass die Einheimischen das ansonsten fast völlig unbekannte Elisental kennen, ein Seitental der Sieg auf der Höhe von Schladern, einem dieser Orte, an dem nicht einmal griechische Restaurants überleben. Das Tal macht einen merkwürdig verlassenen Eindruck. Mit den Ruinen der Pulverfabrik, die über einen Kilometer berauf im Dickicht verstreut stehen, ist es abschnittsweise sogar unheimlich. Dann nämlich, wenn schwarze Öffnungen direkt in den Berg führen und wir vom Weg nicht erkennen können, wie weit es da rein geht.

Die Pulverfabrik ist vor ungefähr 100 Jahren explodiert, das Schwarz- und Schießpulver hat sich in die Reste des Mauerwerks eingebrannt. Durch die verlassenen Fabrikgebäude fließt ein Bach, der sich in Senken zu moorigen Tümpeln staut. Wir laufen den Weg entlang, hören nur das Summen der Bienen in der Sumpfvegetation, zählen die absurd orangefarbenen Nacktschnecken auf dem feuchten Boden und staunen über abertausend Minifrösche, die sich im Mulch tummeln. Die Rindenreste liegen in großen geordneten Inseln am Wegrand und duften nach Holz. Es gibt für die Spaziergänger/innen, die hier nicht hinkommen, zwei Schautafeln. Sie geben einen Überblick über den Bachverlauf im Elisental und markieren die Überreste der Pulverfabrik, deren Mauern über einen Meter dick sind. Dreißig Männer haben hier während der vorletzten Jahrhundertwende gearbeitet, haben aus Schwefel und so Schießpulver hergestellt, bis ihnen die Fabrik um die Ohren geflogen ist.

Der Blick in den Wald ist nur kurz, er ist finster und feindselig. Schnell wende ich die Augen wieder ab und trotzdem verfolgen mich die grausigen Möglichkeiten dieser Schwärze mehrere Tage und Nächte. Zu viele Thriller, Science Fiction und Vampirromane? Hier sind wir, allein im Wald, leichte Beute! Ich schwinge meinen Stock über die Gräser, versuche es mit Ablenkung, Pflanzen bestimmen. Bleibe beim Lämmersalat (Arnoseris minima) hängen, das baut mich jetzt auch nicht auf.