Montag, 31. August 2009

Klebkraut

Wenn ich an einem heißen Tag morgens in Neukölln vor meine Haustür trete, stinkt es nach Hundekacke, auch direkt neben der Bäckerei. Die Autodächer sind dick mit dem klebrigen Saft der Lindenblüten bedeckt und der Staub färbt mehr oder weniger geometrische Muster darauf ein. Ein kurzer Gedanke an Michael Jackson, ruhe er in Frieden, und seinen Mundschutz, jetzt, wo der Straßenreiniger die ganze Soße pulverisiert in die Atemluft wirbelt.

Die Müllabfuhr hat mich heute Morgen um sieben geweckt, nein, eigentlich hat mich der Handwerker geweckt, der über mir wohnt und der immer um fünf Uhr aufsteht. Grundsätzlich bin ich froh, dass die Müllabfuhr zweimal in der Woche kommt, dazu noch die Wertstoffabfuhr und Glastonne, alle an einem anderen Tag, klar. Ab meiner Haustür schaue ich dann, wenn es geht, nicht mehr auf den Boden, konzentriere mich auf die Musik in meinen Ohren. Das mit dem bewusst nicht hinschauen ist tückisch, denn das neugierige Hirn macht diese Verweigerungshaltung nicht mit. Entlang des Maschendrahtzauns von ehemals Tempelhof wuchert jetzt Vegetation, für die niemand mehr zuständig ist. In einem kurzen Heckenabschnitt konzentriert sich noch einmal stechender Geruch, der von quer laufenden Urinspuren stammt und verborgenem Unrat in den Büschen, von dem ich nicht wissen will, was es ist.

Einmal, nach einem kurzen Regen, sah ich so etwas wie einen abgeschnittenen Finger im Gras liegen, oder eine Zunge, irgendetwas Längliches. Zwischen den Metallrauten des Zauns windet sich Klebkraut (Galium aparine), das kennt ihr alle, ihr Stadtmenschen mit den Stöpseln in den Ohren.

Mittwoch, 26. August 2009

Dreiteiliger Zweizahn

So häufig war ich schon in den Bergen, aber noch nie habe ich einen derart klaren Bach gesehen, den Goldbach.

Ganz unverhofft sind wir in diesem Sommer auf einer Wanderung zu einem anderen Bach, der Leitzach, auf ihn gestoßen, haben uns aber befremdet gleich wieder abgewandt, weil so etwas wie eine esoterische Kräuterhexe mit einem brennenden Ast in der Hand an seinem sandigen Ufer hockte und ins Wasser lächelte. Ein Blick auf die hennagefärbte Langhaarige mit der Lederhaut genügte, um uns bergaufwärts in die Flucht zu schlagen. Wir haben die ganze Pracht des Goldbachs dann erst bei unserer Rückkehr von der Leitzach bewundert. In die schwache Strömung der Leitzach haben wir nur kurz gepinkelt, nachdem wir uns entschieden hatten, nicht im seichten Wasser zu baden, weil es schon fast Abend war und viele Mücken herumschwirrten. Unsere Stiche vom Tag zuvor, als wir bei Sonnenuntergang in der Mangfall, einem kleinen Fluss in der Nähe unseres Feriendorfes, gebadet haben, juckten noch auf der Haut. In der Mangfall waren kurz vorher zwei Erwachsene ertrunken, als sie zwei Kinder retteten. In den Staustufen kann man wunderbar schwimmen, aber nur, wenn der Fluss nicht zu viel Wasser führt und die Strudel einen auf den Grund ziehen.

Der Goldbach läuft einige Kilometer quer zum Berghang und wird direkt aus mehreren Quellen gespeist. Ohne sichtbare Fließbewegung gibt er sein magisch klares Wasser weiter. Wanderer geraten in einen Bann, kommen bei seiner Betrachtung vom Weg ab und holen sich nasse Füße. Ich möchte mich am liebsten gleich ganz hineinlegen in den eiskalten Bach und Gold werden. Gut, dass ich nicht alleine hier bin und das Bachbett zu meiner ewigen Ruhestätte erkläre. Ich reiße noch schnell ein paar Stengel vom Dreiteiligen Zweizahn (Bidens tripartia) aus, um meinen Stoffwechsel in Schwung zu bringen. Der zauberhafte Goldbach muss wieder aus meinem System heraus.

Dienstag, 25. August 2009

Quecke

Jeden Morgen stehen wir früh auf und joggen auf Feldwegen rund um das Dorf. In unserer unausgeschlafenen Feriennaivität denken wir, wir wären die einzigen, die sich im Frühtau den Restalkohol aus dem Blut schwemmen, falsch. Wir tragen Sportbrille und Schirmmütze, damit die Augenringe nicht das fröhliche Grüß Gott an die anderen Läufer trüben, ein kurzer Blick auf die Marke der Runningwear. Es gibt so viele Outletcenter in den Voralpen, dass man schön blöd wäre, mit no name Sportklamotten hier herumzulaufen.

Die Maitais von gestern Abend machen uns kurzatmig. Am Betonufer des Stausees hocken Angler, ein junger Landwirt brettert mit seinem Trecker über den Acker und verpestet die Luft. Er lacht laut. Über uns? War er gestern auf unserer Singstar-Party? Ich kann mich nicht an ihn erinnern. Aber ich stand die meiste Zeit über in der Küche und habe die Cocktails gemixt. Unser Gesang hat die Dorfjugend mutig gemacht. Plötzlich waren ganz viele Leute im Wohnzimmer, die versuchten Hochdeutsch mit uns zu reden. Wenn ich bayrisch antwortete, haben alle mit den Augen gerollt.

Na und? Als das Weißbier aus dem Kühlschrank im Keller alle war, sind wir auf hochprozentige Drinks umgestiegen. Drapiert mit allerlei heimischem Obst habe ich die Getränke in Starbucksbechern aus der ganzen Welt serviert. Das sind eigentlich Kaffeetassen, aber davon gibt es eine unbegrenzte Anzahl überall im ganzen Haus. Der abwesende Hausherr ist ein weitgereister Tassensammler. Wir haben die Zweckentfremdung für uns behalten, man weiß als Hausgast ja auch nicht, ob das Sammelgut überhaupt benutzt werden darf. Aber mal ehrlich – Starbuckstassen aus den Metropolen der ganzen Welt eignen sich ausgezeichnet als Cocktailgefäße. Man kann sie auch nach dem Verlust der Feinmotorik sicher irgendwo abstellen ohne dass etwas verschüttet wird oder die Tasse selbst ins Wanken gerät. Für die Dorfjugend nach dem Bierkrug das ideale Trinkgefäß. An den Rändern unserer Joggingstrecke wächst die Quecke (Agropyron repens) mit langem, kriechendem Wurzelstock. Als Frischsaft auf einen Teelöffel geträufelt löst sie Nieren- und Harnsteine auf und schützt die Schleimhäute. Das perfekte Mittel für Urlaub in Bayern.

Montag, 24. August 2009

Eisenkraut

Der Absprung vom Berg ist unspektakulär. Wir breiten den Schirm fächerartig hinter uns aus, hoffen, dass kein Idiot über die Schnüre stolpert und rennen mit kräftigem Schritt den Abgrund hinunter, das Geröll in den Berg stampfend, die Kräuter zermalmend. Dann hat sich der Wind schon unter das Hightech-Material geschoben und lässt uns über die Tannen driften. Wir schrauben uns auf den Wogen der Aufwinde immer höher in die Luft. Ein erhabener Moment, schließlich fliegen wir.

Das Fliegen ist laut, der Wind rauscht in den Ohren, er rüttelt am Schirm und am Anorak, pfeift und ächzt und dröhnt. Als wolle er sich beschweren, dass wir bequem in diesem Flugsessel sitzen, Businessclass sozusagen, und uns unbeschwert, aber auf seine Kosten, ein bisschen nach oben und dann wieder ein wenig nach unten bewegen. Wir gleiten über die Baumwipfel und erkennen die Isar als silbernes Band unter uns. Später werden wir an ihrem Ufer auf die Schirme nach oben gucken. Ich tauche meinen blassen Fuß in das eiskalte Wasser, bei der Landung auf der Viehwiese habe ich den Knöchel verstaucht. Wir dachten, wir könnten mal so easy aufsetzen und haben uns dann zum Vergnügen der anderen Fluggäste, die schon weich gelandet waren, im Geschirr verheddert und überschlagen. Die Schmach in unseren Gesichtern hat der rote Schirm zugedeckt.

Die Kiesstrände der Isar zwischen Lenggries und Bad Tölz sind Südsee. Die Hitze über den Kieseln flimmert, Lethargie macht sich breit. Der Fuß ist im Wasser gefühllos geworden, der Blick auf den bayernblauen Himmel und die grüne Strömung brennen sich ins Gehirn. Im Schutt liegt verwaschenes Treibholz, dazwischen reckt sich Eisenkraut (Verbena officinalis). Es dämpft psychogenen Kopfschmerz und leichte Trigemus-Neuralgie. Für mich genau das Richtige in diesem Moment.