Montag, 29. März 2010

Goin` West

Die Fahrt nach Westen fühlt sich ungleich besser an als andersherum. Immer leichter wird mein schweres Hirn. Ganze Brocken von klumpigem Gehirnschmalz fallen von mir ab. Die Gesichtsmuskeln entspannen sich, blöde lächelnd sitze ich mit halbgeschlossenen Augen da. Den anderen geht es auch so. Als würde die Zugbegleiterin mit einem Zerstäuber durch die Reihen gehen und den betörenden Duft von Moschus-Malven (Malva moschata) verspritzen. Morgen fliege ich mit meiner Tochter und ihrer Freundin dann noch weiter nach Westen, bis ans Wasser. Abends werden wir über den Ozean blicken, der Sonne hinterher. Den klaren Kopf werden wir mit einem Sundowner benebeln und dann so lange schlafen, bis es wieder Nacht wird. Der Wind wird jeden überflüssigen Gedanken fortwehen. Vielleicht werden wir auch gar nichts denken, nur die müden Glieder in den kühlen Pool tauchen und anmutig nach Glühwürmchen schnappen.

Sonntag, 21. März 2010

Das Luftschloss bröckelt

Ich, Meisterin in der Kreation von Trugbildern und Luftschlössern, muss mich mal wieder aus Trümmern befreien. Habe schon ganze Städte in Windeseile erbaut, Paläste errichtet, Türme emporgezogen, Stein auf Stein, Tag für Tag. Jahrhunderte hätte ich dort wohnen können mit all dem geliebten Grünzeug wie dem Fleißigen Lieschen (Impatiens walleriana) um mich herum, mit meiner Tochter, ihrer Freundin, Andi und meinem Schlafgefährten. Es stellt sich heraus, dass meine soliden Phantasien Kartenhäuser sind, die beim kleinsten Windhauch in sich zusammenbrechen. Dann purzeln auch die sensiblen Personenkonstellationen durcheinander und Andi haut ab ins All. Lässt mich mit dem Schutt alleine. Verlässt sich auf meinen Einfallsreichtum, aus dem Müll wieder etwas Kunstvolles zusammenzubauen, worin er dann kurz wohnen kann. Ich mache das. Staubbedeckt und am Ende meiner Kräfte stemme ich das nächste Projekt - Luftschloss Nummer fünfhundertdreiundsiebzig – und lade alle ein. Die anderen haben sich an den Event-Charakter meiner Erfindungen gewöhnt und finden es lustig. Sie müssen ja auch nicht aufräumen. Übrigens: Die Kravatte hat sich nicht gemeldet.

Samstag, 13. März 2010

Zwei Meter zwei

Der Basketballspieler neben mir liest Meteor. Seine Haltung auf dem Fensterplatz sieht verkrampft aus, seine Knie klemmen das Buch wie zwei gewaltige Bügel ein. Solche Bügel wie auf der Kirmes bei diesen rotierenden Karussells, die Black Rebel oder Hell Damon heißen. Die langen Beine stecken in feinsten Anzughosen, nach einer Stunde zieht er seine Krawatte aus und wir fangen an zu reden. Nach weiteren hundert Kilometern tauschen wir die Plätze und er streckt seine Beine in den Gang. Schranke, niemand kommt mehr durch. Unser Gespräch über die deutsche Wirtschaft, den politischen Reformbedarf im Steuerrecht und zu kurze Hotelbetten findet in einer Aura angenehmer Aufmerksamkeit statt. Und auf einmal ist schon Wuppertal, er sortiert eilig seine Gliedmaßen und eilt nach draußen. Als wir wieder Fahrt aufnehmen, finde ich seinen Binder unter dem Sitz, er duftet herb nach Europäischer Seide (Cuscuta europaea). Ob die komprimierten Vierstundeninformationen für Google ausreichen, eine Adresse für die Krawatte zu finden?

Dienstag, 9. März 2010

Remember Hannah

Dies ist eine traurige Geschichte. Unendlich grausam und gewalttätig. Eine Greueltat, ein Anfall von Wahnsinn, der einige mörderische Stunden dauerte und für Hannah tödlich endete. Das war vor zweieinhalb Jahren und Hannah war vierzehn. Ihr Peiniger war Mitte zwanzig und hat mit hinterhältiger Absicht nicht nur auf brutalste Weise das Leben von Hannah beendet, sondern auch das ihrer Familie. Nichts ist wie vorher.

Das Leben meiner Tochter, ihrer Freundin und mir hat sich seitdem verändert. Das Böse hat Einzug gehalten, es lauert überall, so wie der Täter hinter den Büschen. Schlimm ist, dass wir es nicht erkennen, auch wenn es vor uns steht. Erst, wenn es zuschlägt, uns ins Dickicht schleppt und uns auf schmerzvollste Weise Wunden zufügt, bis wir nicht mehr atmen. Dann wachen wir auf, japsen nach Luft. Die Luft ist dick von Gram und Leid. Die guten Erinnerungen an die gemeinsame Zeit helfen nicht, das Jammertal zu verlassen. Wir wollen Kontakt aufnehmen, die Grenze ins Jenseits überschreiten, feststellen, dass Hannah noch da ist und dann unser Leben weiterleben, das in seiner binären Realität keinen Sinn mehr macht. Finden wir Trost in dem Wissen, dass keine Materie verloren geht? Dass alles, nur anders, um uns herum ist? Für ihre Mutter wünsche ich mir Hannah als Gänseblümchen (Bellis perennis), die von Februar bis November in ihrem Garten blühen, Jahr für Jahr. Morgen wäre Hannah siebzehn geworden.

Freitag, 5. März 2010

Mit Wolle durch den Winter (4)

Es ist immer noch eiskalt. Schneeflocken tanzen über den Rhein, dabei ist Karneval schon längst vorbei. Während alle Herbergen in Bayern ihre Gäste mit dicken Bettdecken versorgen, tun die im Norden so als wäre immer Sommer oder als wären alle Menschen Engländer. Im Norden, das ist in Bremen an der Weser, die schlammbraun und gezeitenlaunig durch die Stadt strömt. Direkt am Ufer steht die Becksbrauerei und raucht. Ich glaube, die denken, man müsse nur ordentlich Bier trinken und würde dann von selbst warm. Die Cocktails in der schicken, aber öden Bar sind jedenfalls nicht gut. Gut ist dort der Stoff an der Wand a la zehnfachvergrößerter Heckenrose in lila (Rosa canina), bestimmt von Ikea. In der Herberge kann man sich im traditionellen Vampirschlaf üben, Holzkisten im Sargformat – leider ohne Deckel, der hätte die körpereigene Wärme noch eine Weile gespeichert. Ohne den Deckel flieht die Wärme mit dem eisigen Luftzug nach draußen, wo sie es wahrscheinlich sofort bereut. Zitternd stehe ich mitten in der Nacht auf und frage den Herbergsvater nach einer Wolldecke, kann ruhig so ein alter grauer Armeeteppich sein, aber er schüttelt den Kopf. Decke mich mit meinem Schal und meinem Mantel zu und warte auf die Ruhe, für die der Herbergsvater nicht sorgt. Wofür ist der eigentlich da, dieser Vater?