Sonntag, 29. November 2009

Kugelfisch mit Augenrändern



Meine Tochter meint, wenn ihr die Weisheitszähne gezogen werden, würde sie aussehen wie ein Kugelfisch mit Augenrändern. Das weiß sie anscheinend schon vorher. Die OP ist erst am Donnerstag, doch schon eine Woche vorher kann sie mir das sagen. Sie hat schon immer lebhaft geträumt. Manchmal hat sie mit Personen geredet, die aus dem Traum neben ihr Bett getreten sind. Auf diese Art hat sie bei einer anderen OP vorher schon mit dem behandelnden Arzt gesprochen. Der hatte standesgemäß einen grünen Kittel an und einen Mundschutz über dem Gesicht. Durch die dünne Stoffwand hindurch hat er ihr versichert, dass es nicht wehtun würde.

Nach dem Eingriff war meine Tochter das medizinische Wunder der ganzen Abteilung. Sie konnte schon am ersten Tag wieder aufstehen, obwohl das nicht so vorgesehen war. Das Personal machte große Augen. Ich glaube, ihr Antrieb waren ihre Haare. Sie wollte einfach schnell ihre Haare waschen, damit sie nicht so krankenbettmäßig am Kopf kleben, wenn der erste Besuch kommt. Das kann ich verstehen. Ach so, ich bin gespannt, inwieweit das mit dem Kugelfisch hinkommt. Auf jeden Fall werde ich schon mal einen Frischsaft aus Echtem Löffelkraut (Cochlearia officinalis) zubereiten, der dämpft Entzündungen und festigt lockere Zähne.

Donnerstag, 26. November 2009

Zugenagelt

Das blonde Mädchen ist höchstens siebzehn und hat eine beneidenswert glatte Haut. Ihre Augen sind mit einem perfekten Lidstrich geschminkt, die Lippen haben einen sanften Schwung. Sie zieht viele Blicke auf sich. Durch die samtene Haut ihrer Wangen sind auf jeder Seite zwei Piercings gestoßen, die leichte Dellen verursachen. Auch knapp über der der Oberlippe hat sie ein Piercing und dann noch einen Ring durch die linke Braue. Sie lehnt sich zurück und schließt die Augen. Lange Wimpern streifen ihr Gesicht, zart wie die ersten Blütenblätter der Schlehe (Prunus spinosa) im Frühling.  Alle Leute, die um sie herumsitzen, schauen sie jetzt an, begreifen nicht das Metall in diesem lieblichen Antlitz, verstehen nicht die Lust an der Selbstzerstörung und versuchen zu ermessen, wie groß der Selbsthass denn sein kann, wenn man so gut aussieht. Das ist schwer nachzuvollziehen. Mir gelingt es nicht. Meine Fantasie geht vom banalen Aufstand gegen die Spießergeneration der Eltern über die reine Neugierde auf den Schmerz bis hin zu ich will nicht mehr immer die Schöne sein und deshalb nagele ich mich zu. Ich habe neulich schon einmal ein Mädchen mit einigen Piercings um den Mund gesehen und bin richtig erschrocken. Denn bei ihr sah das horrormäßig aus. Und ich glaube, sie hat sich gefreut, als ich zusammenzuckte. Sie lachte und das Metall in ihrem Gesicht funkelte.

Sonntag, 22. November 2009

Joshi`s Barbeque Pizza

In der Bahn nach Niederdollendorf tummeln sich zwei Pinguine. Ich weiß auch nicht, warum ich in dieser Linie immer auf exotische Tiere treffe. Es sind zwei Pinguine im Zahnspangenalter, beide chinesischer Abstammung und wie es sich gehört, schwarz/weiß gekleidet. Zuerst denke ich, es sind Aushilfskellner vom Maritim in Königswinter. Aber im Laufe der Fahrt stellt sich heraus, dass sie zu einer Party gehen. Sie sind äußerst vergnügt und schnattern in asiatischer Pinguinart, dabei gestikulieren sie heftig. Ich glaube nicht, dass sie etwas genommen haben, z.B. Medizinal-Rhabarber (Rheum palmatum), der aus China stammt und dessen Aufguss komplexe Wirkungen nachgesagt werden. Ihr stakkatoartiges Geschnatter ist eine Mischung aus Deutsch, Englisch und das, was ich für Chinesisch halte. Plötzlich zieht der eine Pinguin seinen weinroten Reisepass unter dem Flügel hervor, dann lachen sie sich kaputt, weil er mit zweitem Namen Josef heißt. Sie tauschen außer ihren Geburtsnamen auch noch ihre Schuhgrößen aus, immerhin haben beide 41 und das bei eher bescheidener Körpergröße. „Meinst du, da sind noch andere Asiaten auf der Party?“ fragt der eine. Sie machen diese Breakdance 90 Grad Flügelbewegung, ganz schön schwierig, ich habe das ausprobiert, nachdem sie ausgestiegen sind.

Donnerstag, 19. November 2009

Rock`n Roll!



Meine Tochter und ihre Freundin kennen Juliette Lewis nicht – auch nicht aus den Filmen von Tarantino und nicht den Kuss mit Robert de Niro in Kap der Angst oder aus Natural Born Killers. Egal, jetzt macht sie ja  Musik und sie rockt so richtig ab. Sie war im Studio meines Lieblingsradiosenders und ihre Stimme war soooo tief. Sie spielte Songs von Metallica, Iron Maiden, Rammstein und…. Elvis Presley. Zu Rammsteins „Engel“ haben meine Tochter und ich - als sie noch kleiner war – im Wohnzimmer getanzt, bis die Nachbarn an die Wand geklopft haben. Die Rammsteins wohnen ja immer noch in ihren Zweiraum-Plattenwohnungen, an denen jetzt der Efeu (Hedera helix) hochrankt, quasi die Ivy-League des Ostens. Übrigens sind alle Pflanzenteile des Efeu extrem giftig und der Verzehr größerer Mengen führt zu Brennen im Rachen, Durchfall, Erbrechen, Kopfschmerzen, erhöhtem Puls und Krämpfen.

Ich bin ziemlich froh, dass meine Tochter nie ins Ballett wollte und sich lieber meine Platten angehört hat. Wir hatten eine Menge Spaß dabei. Jetzt hat sie ihren eigenen Musikgeschmack und wenn ich sie mal frage, was sie so hört, dann kenne ich die Mucke nicht. Ich höre auch nicht mehr Rammstein und Metallica, eigentlich überhaupt nichts von dem alten Zeug. Irgendwann Anfang des neuen Jahrtausends habe ich Dancefloor entdeckt und so richtig glücklich war ich, als ich mir nach langem Zögern und in Sorge um meine Hörfähigkeit einen iPod zugelegt habe. Der ist jetzt sozusagen angewachsen. Ist mir doch egal, ob ich irgendwann schwerhörig werde. Hauptsache ich kriege keinen Gehirntumor von meinem Mobiltelefon – das schalte ich nachts aus.

Mittwoch, 11. November 2009

Mit Wolle durch den Winter II

Hotelübernachtung in Südthüringen, das ist kurz vor Bayern. Ich schalte morgens den Fernseher an, es ist kalt im Zimmer, um die Wartburg wabert Nebel. Die Webcams auf den Alpengipfeln senden ihren monotonen 90 Grad-Schwenk auf das Wetter und die Schneeverhältnisse. Steinplatte -4, Schneeflecken. Oberjoch -3, weiß. Fellhorn -2, grau verhangen, Wildkogel -2, weiß. Ich blicke aus dem Fenster. Hier ist es grün bzw. spätherbstlich braun. Ich freue mich wie ein Eichhörnchen über diese Übertragung, stelle den Ton lauter, damit ich auch beim Haare föhnen die Volksloungemusik höre. Natürlich sind wir hier nicht in den Alpen, aber es fühlt sich so an. In Thüringen gibt es viele Gingkobäume (Gingko biloba) und alte Villen. Den Gingko gibt es schon seit 200 Millionen Jahren, der ist also viel älter als alles andere, was hier steht.

Die Nacht war wunderbar. Ich habe so gut geschlafen, nachdem ich einige Gläser Saale-Unstrut getrunken und mit meinem weit entfernten Schlafgefährten ein paar Zärtlichkeiten ausgetauscht habe. Als ich mich zur Ruhe begeben will, sehe ich die Information auf dem Nachtkästchen: Liebe Gäste, im Winter haben wir für Ihren Schlafcomfort Unterbetten aus reiner Wolle aufgezogen. Wir wünschen Ihnen eine angenehme Nachtruhe und würden uns freuen, wenn Sie uns auf die Karte schreiben, ob Sie damit zufrieden waren. Vielen Dank. Ich habe heute gleich im Internet nach Unterbetten aus Wolle geguckt, die sind gar nicht so teuer. Muss ich haben. Ich könnte meiner Tochter auch so eins zu Weihnachten schenken, auch wenn sie nicht so auf Wolle steht. Es juckt nicht, ehrlich! Es ist ganz weich und warm.

Sonntag, 8. November 2009

Kommt doch rein!



In dieses Starbuckscafé kommen nur schmale Personen bis fünfzig Kilo. Alles ist eng und klein und Diät. Der Karamelmacchiato ist kalorienreduziert, damit das Café seine Stammkundinnen nicht verliert. Meine Tochter, ihre Freundin und ich sind rein zufällig hineingeraten und da wir beim Betreten der im Boden eingelassenen Body-Mass-Index Kontrollplatte keinen Alarm ausgelöst haben, ist es für uns, als würden wir in ein ganz normales Starbucks gehen. Der gutaussehende Kaffeezubereiter zaubert uns Herzen auf den Milchschaum und bringt uns mit tänzelndem Schritt die Tassen. Erst, als wir unsere Jacken ausziehen, merken wir, wie eng es ist. Die Tische und Stühle, leider keine Loungesessel, stehen so dicht, dass unsere Rippen im Sitzen an die Tischkante stoßen. Wir sitzen am Fenster und blicken auf die Stadtvegetation, eine Winterlinde (Tilia cordata), deren letzte herzförmige Blätter zu Boden fallen. Die Form der Blätter ist die gleiche wie das Kakaomuster auf unserem Milchschaum. Wie aufmerksam. Meine Tochter und ihre Freundin lästern über alle Mädchen, die am Fenster vorbeigehen: Ätzende Haare, uncoole Jacke, dicke Beine, nicht akzeptable Ohrringe. Sie prusten vor Lachen bei der Vorstellung, dass die Pummel auf der Türmatte einen Megaalarm auslösen, puterrot anlaufen und schnell davonlaufen. Der Tänzer grinst zu uns rüber. Beschämt senke ich den Blick und denke an meine wunderschöne Freundin, deren Rundungen sehr attraktiv sind.

Freitag, 6. November 2009

Die Chirurgin trinkt Wermut


Mit einer Digitalkamera fotografiere ich das Innere von Glasschüsseln und heraus kommt: Lenin. Das nenne ich gelungene Aktionskunst oder vielleicht auch kreatives Rorschach-Knipsen. Dabei habe ich mich nie näher mit dem Kommunismus oder Leninismus beschäftigt, ich kenne nicht mal den Unterschied.

Das Aushöhlen eines Kürbisses hat den Anstoß gegeben. Nachdem das Gewebe gelockert und die Kerne herausgelöffelt sind, hängt der Rest irgendwie fest. Stochere mit dem Messer herum und ritze das Fleisch an, Mann ist das zäh! Ich komme mir vor wie eine Chirurgin beim Gebärmutter ausschaben. Jetzt weiß ich auch, dass das nicht einfach ist. Man kann nicht einfach das Innere herausheben wie eine luftige Sahne vom glatten Schüsselrand. Das Zeug krallt sich fest, eklige gelbe Fasern, die glitschig aus der Hand gleiten, wenn ich daran ziehe. Muss ein echter Knochenjob sein, haha. Mir reicht es jetzt, ich fackle die widerspenstigen Stränge mit dem Feuerzeug ab. Noch zwei Augen, eine Nase und ein Gruselmund geschnitzt und Kerze rein. Leuchtet. Danach blitze ich ins Innere von Schüsseln und wundere mich, dass ich Lenin sehe. Liegt es am Wermut (Artemisia absinthum), den ich seit Anfang November abends in kleinen Dosen zu mir nehme? Er kann zu Bewusstseinsstörungen und Impotenz führen. Letztere juckt mich nicht.

Montag, 2. November 2009

Sagenhafte Zabaglione

Auf der Suche nach Lesestoff für meine Tochter habe ich den Bestseller TOKYO LOVE gekauft. Darin begeistert sich eine junge Japanerin für ein Zungenpiercing, das dann langsam geweitet wird, bis das Loch in der Zungenspitze so groß ist, dass nur noch ein kleiner Fleischrand bleibt. Dieses Stück Restzunge wird mit einer Rasierklinge durchgeschnitten. Das blutet wie Sau. Am besten nimmt man etwas Eis in den Mund. Wenn die Schwellung abgeklungen ist, hat man eine gespaltene Zunge wie eine Schlange. Das muss ein unglaubliches Gefühl sein. Jedenfalls glaubt das die junge Japanerin. Das Buch ist zu Ende, bevor sie den endgültigen Schnitt macht, aber sie ist fest entschlossen.

Ich erzähle diese kurze Zusammenfassung bei einem Kennenlerndinner. Meine Tochter hat nämlich einen Freund, den kenne ich noch gar nicht, also lade ich die beiden zum Essen ein und gucke. Sie ist ein bisschen aufgeregt, er die Ruhe selbst. Er meistert meine intensive Befragung nach Herkunft, Familienverhältnissen, Lieblingsbüchern und –musik, Berufswunsch, Schulnoten und Freizeitbeschäftigungen mit Bravour. Nur einmal hebt er die Augenbrauen etwas an. Als ich während der Pizza Rucola das mit dem Zungenpiercing erzähle. Da blinzelt er schnell zu meiner Tochter hinüber. Die hat plötzlich aus nicht nachvollziehbaren Gründen einen Lachanfall. Obwohl ich nicht weiß, was sie so witzig findet, freue ich mich, dass sie sich amüsiert. Sie lacht sich die ganze Wimperntusche auf die rosigen Wangen, ich hoffe es ist kein hysterischer Anfall. Ihr Freund und ich löffeln die sagenhaft gute Zabaglione. Er sagt, er mag Fencheltee (Foeniculum vulgare), der lindert Krämpfe und Blähungen. Meine Tochter macht große Augen.