Mittwoch, 28. Oktober 2009

Wir machen mal was zu dritt

Über eines dieser Portale hat ein alter Freund Kontakt zu mir aufgenommen. Wie sich herausstellt, wohnt er auch in Berlin, aber außerhalb, im Speckgürtel. Er kommt eines Nachmittags in meinem Büro vorbei, klopft an die Scheibe und grinst. Mit einem Schlag fühle ich mich um viele Jahre zurückversetzt, er sieht genauso aus wie früher. Ist er ein Untoter? Wie kann denn jemand so gar nicht älter werden? Allerdings sagt er kurz darauf das Gleiche zu mir und ich bin garantiert keine Untote, das wüsste ich.

Während unseres Besuchs beim Italiener erzählt er mir von seiner Frau. Und von seinem Haus. Von seinem Garten. Von den Nachbarn und ihren Gärten. Von den Katzen, die einfach in seinen Garten scheißen und wie er das verhindert. Er hat Strom in den Zaun geleitet. Gähn. Dann meint er, dass wir doch mal was zu dritt machen könnten. Hm. Auf dem Tisch steht ein Kräutertöpchen mit Rosmarin (Rosmarinus officinalis) drin. Ich zerreibe eine der Nadeln mit meinen Fingerspitzen. Das ätherische Öl steigt mir in die Nase, mein Gehirn meldet mir abgespeichertes Wissen: Rosmarin vermindert Krämpfe und stärkt das Herz. Ich lächle meinen verflossenen Untoten an. Ins Theater oder in ein Konzert. Warum? Seine Frau möchte auch an seiner Vergangenheit teilhaben. Aha. Plötzlich fällt mir ein, dass er Psychologie studiert hat und als Therapeut tätig ist. Vor meinem geistigen Auge sehe ich mich bei irgendeiner Oldieband zwischen ihm und seiner Frau stehen. Ich glaube, da gehe ich lieber mit Andi in eine Cocktailbar. Sozusagen allein.

Sonntag, 25. Oktober 2009

Dr. Katja Berg

Eine Frau sitzt mir gegenüber, Dr. Katja Berg. Sie hat leuchtend blaue Augen, kurzes aschblondes Haar und ein Lächeln auf den Lippen. Ihr Alter ist schwer zu schätzen, denn ihre Haut ist glatt, ihr Ausdruck heiter. Ich weiß wie sie heißt, weil ich kurz auf ihre Fahrkarte geguckt habe. Als sie einstieg, habe ich sie für eine Nonne gehalten. Sie trägt so ein schwarzes kuttenförmiges Kleid und einen Trenchcoat. Sind Nonnen promoviert? Den Gurt ihrer Handtasche hat sie quer über ihre Brust gelegt, das sieht unbequem aus, aber sie bleibt die ganze Zeit über still so sitzen. Sieht aus dem Fenster, die Hände im Schoß. Was wohl in der Tasche ist? Das Herz Jesu, frisches Geld aus dem Automaten oder geweihte Hostien aus der Klosterbäckerei? Vielleicht auch ein geheimes Rezept der Hildegard von Bingen, ein Prototyp für eine Salbe aus dem Sumpf-Blutauge (Comarum palustre), das sich ganz christlich keusch ungeschlechtlich durch den schwach verholzten Wurzelstock vermehrt.

Dr. Berg fährt von Bielefeld nach Hannover, außer ihrer Handtasche hat sie noch einen kleinen roten Rollkoffer dabei. Wahrscheinlich ist sie keine Nonne. Viel eher ist sie Anwärterin für den Nobelpreis für Biochemie oder Astrophysik, da machen einen die kleinen Teilchen glücklich – und genau so sieht sie aus: zufrieden, eins mit sich, ruhig. Ich könnte sie mal googlen. Als Dr. Berg wieder aussteigt, sagt sie freundlich Tschüs zu mir. Ich stammle ein auf Wiedersehen.

Donnerstag, 22. Oktober 2009

Pilze aussetzen

Sind Pilze Pflanzen oder Früchte? Keine Ahnung, wahrscheinlich etwas Eigenes, da müsste ich mal eine Freundin, die Biologie studiert hat fragen oder Wikipedia. Egal, jetzt im Oktober ist ja Pilzsaison und auch im Siebengebirge sind schon früh morgens Leute mit Körben unterwegs, meistens Rentner oder Leute aus dem Osten. Früher hat meine Familie auch immer Pilze gesucht. Mein Vater kannte die wirklich guten Stellen, wo malerisch eine Runde Steinpilze im Moos wuchsen oder leuchtend gelbe Pfifferlinge. Die haben wir mit Rühreiern und Speck direkt aus der Pfanne gegessen.

Verwirrt sind die Pilzsucher, wenn sie an den üblichen guten Stellen jetzt Pilze finden, die eindeutig nicht da gewachsen sind, denn sie sind aus Wolle gehäkelt oder gestrickt. Kleine rote Fliegenpilze und dotterfarbene Schwämmchen - ausgesetzt auf trockenem Laub und schwarzer Walderde. Sie trauen sich nicht, diese Kunstpilze anzufassen, denn wer weiß, von welch böser Hand und mit mit welch übler Absicht sie hier plaziert wurden. Vielleicht sind sie mit Gift gefüllt, das bei Hautkontakt sofort Atembeschwerden und Herzstillstand bewirkt. Dabei stehen die Pilzkundigen mit ihren derben Schuhen wahrscheinlich mitten im Blutwurz (Potentilla erecta), dessen unterirdische Pflanzenteile gegen Allergien wirken und blutstillend sind, sogar beim Erbrechen von Blut. Alte Wurzelstöcke leuchten im Dunkeln. Doch das sehen die Pilzsammler nicht, denn nur die Pilzaussetzer gehen nachts in den Wald.

Freitag, 16. Oktober 2009

Mit Wolle durch den Winter

Kaum haben wir die Grenze nach Bayern überschritten, fängt es an zu schneien. Dichtes Schneetreiben peitscht über die hügeligen Wiesen. Ist ja auch schon der 16. Oktober, da fängt der Winter an. In München haben natürlich schon alle ihre modischen Fleecejacken an, Mützen, dicke Schals, Handschuhe. Ich habe mein Wolljankerl dabei, dickes schwarzes geschorenes Schaf, das kratzt wie Juckpulver auf der Haut, aber es wärmt wie nix anderes. Ich versuche immer, meine Tochter davon zu überzeugen, wie toll so eine wärmende Wolle ist, aber sie widersetzt sich hartnäckig.

Wenn man in München oder überhaupt irgendwo in Bayern in einem Hotel übernachtet und morgens den Fernseher anmacht, dann kommt diese Live-Rundschau der Berglifte von den webcams. Ich liebe diese Sendung: Kein störender Sprecher, nur diese Lounge-Musik, manchmal leicht mit volkstümlichen Elementen gefärbt und freie Sicht auf die Schneeverhältnisse in Oberstdorf, Kitzbühl und Tirol. Da schneit es heute auch überall, obwohl die Saison erst am 28. November beginnt. Aber die Einheimischen sind das gewöhnt, seit Jahrhunderten gibt es frühe Wintereinbrüche. Das weiß auch die Herbstzeitlose (Colchicum autumnale), die jetzt unterm Schnee verreckt, ihr Fruchtknoten überwintert im Boden. Und ihre klebrigen Samenanhängsel haben sich beim Viehabtrieb im September eh schon an die Hufe des Viehs geheftet.

Mittwoch, 14. Oktober 2009

Wasabi-Effekt

Ist ja schön, wenn das Glück in mir zupft wie eine Zungenspitze Wasabi. Zwei Tage kann das gehen. Wenn dann ein neuer Impuls kommt, entsprechend länger. Mein Blutdruck steigt, mein Stoffwechsel rotiert, meine Gedanken entfernen sich in Was-wäre-wenn-Galaxien. Das Glück ist ja meist eine Verliebtheit und damit sehr flüchtig. Ich habe ein paar potentielle Verliebtheiten da draußen in der kalten Welt. Andi ist eine, es gibt aber auch andere, unverhoffte. Sie müssen mich überraschen, sonst kann ich den Wasabi-Effekt knicken. Irgendwann ebbt das Hoch dann wieder ab in das gewohnte Körper- und Kopfgefühl, das ich als mein Ich kenne.

Emotionale Tiefschläge rufen eine ähnliche, aber natürlich eher unangenehme Reaktion hervor. Jenseits von rationaler Alltagseinschätzung reißen sie mich in den Schlund dunkler Hormoncocktails: heiße Haut, blinde Wut, rasender Zorn und ein gähnender Abgrund in der Bauchgegend. So als verknoteten sich die Darmschlaufen, als würde Unrat ausgekippt, giftige Galle verschüttet.

Mensch, also wirklich, wann wird mein Leben denn endlich dieser gleichmäßig fließende Strom, in dem höchstens mal ein paar Enten landen? Es ist mir nicht vergönnt, weil ich der Typ Großes Springkraut (Impatiens noli-tangere) bin. Noli me tangere war mein Lieblingsspruch außerhalb der Lateinklasse. Fass mich nicht an!

Dienstag, 13. Oktober 2009

Für Warmblütler schwach giftig

Ich träume von Moritz Bleibtreus Lippen. Fühle, wie sie an meinem Mund andocken und mich küssen. Sie decken mein halbes Gesicht zu, saugen sich fest wie einer von diesen Rohrdingern mit dem roten Gummi, mit denen man verstopfte Abflüsse bearbeitet. Ich kann nur noch durch die Haut atmen. Im Traum geht das. Ich weiß, es sind die Lippen von Moritz Bleibtreu, aber es ist nicht er, der hinter den Lippen ist. Es ist ein anderer, wahrscheinlich Andi.

Doch im Traum zählt nur der Kuss selbst, der jetzt an Intensität zunimmt, dem Druck Bewegung gibt und meinen ganzen Körper nach hinten drückt, bis mir der Nacken wehtut. Ich wache auf. Mein Oberkörper hängt über der Bettkante, ich greife nach der Bettdecke und rutsche mit ihr auf den Boden. Mann! Es ist schon eine halbe Ewigkeit her, dass ich im Schlaf aus dem Bett gefallen bin. Was für ein Traum. Mein Schlafgefährte hat nichts gemerkt. Gut. Sonst müsste ich jetzt lügen. Das kann ich nicht so überzeugend mitten in der Nacht. Ich decke uns behutsam wieder zu und schließe die Augen. Der nächste Traum handelt von der Gemeinen Hundszunge (Cynoglossum officinale), sie verströmt einen starken Mäusegeruch, wenn man sie zerreibt und ist für Warmblütler schwach giftig. Was soll das jetzt wieder bedeuten?

Freitag, 9. Oktober 2009

Einjähriges Berufskraut

Meine Tochter und ihre Freundin müssen ein dreiwöchiges Praktikum absolvieren. Andi und ich haben unsere Kontakte gecheckt, Werbeagenturen, Castingfirmen, Radio- und Fernsehsender. Ich habe meine langjährigen Erfahrungen als Bewerbungsleserin eingebracht und den beiden originelle Vorschläge für ihre Anschreiben gemacht. Damit sie aus der Masse herausstechen. Wollen sie aber gar nicht. Sie wollen so sein wie die anderen. Und eigentlich haben sie sowieso keine Lust auf so ein blödes Praktikum. Das Beste daran ist, drei Wochen keine Schule zu haben. Dafür müssen sie acht Stunden malochen.

Und, wo sind sie gelandet? In einer Kita! Herzlichen Glückwunsch. Den ganzen Tag das Geschrei der kleinen Goofen in den Ohren und auf den Knien ihrer Designerjeans Memory, Fang den Hut und Bob, der Baumeister spielen. Nachmittags gehen sie im Gänsemarsch singend in den Park und pflücken, was noch blüht, den zartlila Gemeinen Feinstrahl (Erigeron strigosus) zum Beispiel, auch bekannt als einjähriges Berufskraut. Das turnt voll ab. Danach werden sie ihren Berufswunsch jedenfalls gründlich überdenken und vielleicht ist Abi machen ja doch nicht so schlecht. Gut, dass das Praktikum nur drei Wochen dauert.

Mittwoch, 7. Oktober 2009

Schwarzes Gift aus Weißer Rübe

Herbst im Park. Die Blätter bedecken meine Laufstrecke und die Hunde scheißen mitten drauf. Bin heute in zwei versteckte Haufen gelaufen, die stinkende Masse hat gelbes Laub unter die Sohle geklebt. Hinkend, fluchend, ein Bein nachziehend wische ich das Zeug an Grasbüscheln ab, sprinte dann in eine kleine Sandgrube, um den Geruch zu neutralisieren. Das ist mein wiederkehrender Alptraum: Ich laufe in Hundekacke, die unter Blättern versteckt ist. Die Alternative wäre, nur auf dem Asphalt zu rennen. Aber ich gehe ja in den Park, um genau das nicht zu müssen.

Der Geruch an meinen Schuhen verfolgt mich den ganzen Tag. Ich habe geduscht, mir fünfmal die Hände mit Spüli und so heißem Wasser gewaschen, dass sie fast verbrannt sind. Die Schuhe stehen draußen. Soll sie doch wieder jemand klauen. Aber jetzt will sie natürlich keiner, erst, wenn ich sie gesäubert habe, den Dreck mit einem kleinen Stöckchen aus den Ritzen gefummelt und an den Zaun geschmiert habe. An dem rankt sich die Weiße Zaunrübe (Bryonia alba) hoch, äußerst giftig. Ihre schwarzen Beeren können für Kinder tödlich sein, für Hunde bestimmt auch. Ich sammle die Beeren und lasse sie bei meinem nächsten Lauf unauffällig auf das Laub fallen.

Dienstag, 6. Oktober 2009

Glück ist wenn dir kein Ziegel auf den Kopf fällt

Abstand von der Stadt schafft auch Distanz zu den urbanen Gefühlen. Was sind die Menschen freundlich hier! Kein kritisches Taxieren und Abschätzen des Coolnessfaktors, bevor man in einen eventuellen Augenkontakt tritt, der dann immer noch feindselig bis indifferent ist. Glück ist, wenn dir kein Ziegel auf den Kopf fällt, sagt meine Tochter. Wir gehen durch die etwa zweihundert Meter lange Fußgängerzone. Aber der Gedanke behagt mir nicht und ich widerspreche. Nein, Glück muss man fühlen, Glück muss einen lähmen oder überwältigen, auch wenn es nur ganz kurz ist. Sonst wäre man ja immer glücklich, weil man froh sein kann, dass einem nichts Schlimmeres passiert als das, was man so erlebt.

Dort unten fließt der Rhein. Sein Fließen macht mich wortkarg, er zieht das Denken mit seiner Strömung mit. Wir laufen stromabwärts und der Strom ist schneller, obwohl er so träge wirkt. Was bleibt mir, wenn das Denken weg ist? Sehnsucht. Meine Güte, dieses Mal ist es Sehnsucht nach der Stadt, dem Auf und Ab der Gefühle, den dunklen Löchern, in die ich falle, wenn ich mich mal wieder verrannt habe. Schwarze Löcher, die meine Energie fressen, finstere Wirbel, auf denen ich mal tanze, dann wieder zermalmen sie mich. Wo ist es jetzt besser? Stadt, Land? Ich esse Saat-Hafer (Avena sativa) mit Honig, der beruhigt, kräftigt und lindert Schlaflosigkeit.

Montag, 5. Oktober 2009

Ich würde gerne gerne lesen

Das hat die Freundin meiner Tochter anvertraut, die von sich sagt, sie könne ohne Bücher nicht leben. In diesem Alter neigen sie zu klaren Aussagen. Ich kann nicht ohne Bücher leben, ich hasse Pferde, weiße Stiefel sind scheiße und Sex on the Beach ist voll geil.

Meine Tochter verschlingt Bücher, am liebsten mag sie Problemgeschichten mit magersüchtigen Mädchen, die sich die Haut ritzen oder Mädchen mit Borderline oder Mädchen, die sich in Vampire verlieben. Ich habe auch einige dieser Bücher gelesen. Gar nicht so übel. Das gerne lesen hat sie wahrscheinlich von mir, obwohl ihr Vater auch eine beeindruckende Bücherwand in seinem Zimmer hat. Vielleicht ist sie auch von zwei Seiten mit literarischem Interesse versehen worden, jedenfalls neidet ihre Freundin ihr dieses Sich-Versenken in die Fiktion, weil sie einfach nicht gerne liest. Sie würde aber gerne gerne lesen wollen.

Vielleicht kann man das gerne lesen üben, sich einfach penetrant mit einem Buch niederlassen und an nichts anderes denken. Sich nicht ablenken lassen von schönem Wetter, Schule oder Abendessen mit der Familie. Einfach weiterlesen, bis es sie packt. Gegen Entzündung und Müdigkeit der Augen kann sie eine 2-minütige Abkochung von Gemeinem Augentrost (Euphrasia rostkoviana) auftragen und dann weiterlesen.